Die Verhandlungen über das milliardenschwere Startchancen-Programm für Schulen sind an diesem Freitag in Berlin abgeschlossen worden. Die Politik setzt große Hoffnungen darauf. «Das heute beschlossene Startchancen-Programm ist das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik», sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). «Wir setzen Impulse für ein moderneres und leistungsfähigeres Bildungswesen und erneuern das Aufstiegsversprechen.» Experten sehen tatsächlich viele positive Punkte, führen aber auch an, was fehlt.
Was ist die Ausgangslage? Die beiden Bildungsforscher Nele McElvany und Ulrich Ludewig von der TU Dortmund weisen darauf hin, dass die familiäre Herkunft in Deutschland nach wie vor einen großen Einfluss auf Bildungschancen hat. Zudem gebe es zunehmend Schüler, die besonders gefördert werden müssten, etwa in Deutsch. Bildungsstudien zeigen eine Abnahme der Kompetenzen. Die im Dezember veröffentlichte, neueste Ausgabe der Pisa-Studie dokumentiert, dass deutsche Schülerinnen und Schüler so schlecht abschnitten wie nie zuvor. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handelte es sich um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden.
Was ist das Startchancen-Programm? Das Programm soll von Bund und Ländern gemeinsam aufgelegt und finanziert werden, um bundesweit rund 4.000 allgemeinbildende und berufliche Schulen zu fördern, die einen hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler haben. In den im September veröffentlichten Eckpunkten heißt es, dass das Programm den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufbrechen soll. Es soll dazu beitragen, dass das Bildungssystem in Deutschland besser und leistungsfähiger wird. Zugleich ist es eines der wichtigsten bildungspolitischen Vorhaben der Ampel-Regierung.
Was ist das konkrete Ziel? Verbessert werden sollen die Kompetenzen der Schüler vor allem in Lesen, Schreiben und Mathe. «Bis zum Ende der Programmlaufzeit soll die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, an den Startchancen-Schulen halbiert werden», heißt es in den Eckpunkten. Bundesweit sollen rund eine Million Schülerinnen und Schüler profitieren.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), sagte in Berlin, das Startchancen-Programm könne dazu beitragen, den bislang noch stark bestehenden Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg eines Schülers aufzubrechen.
Wann soll das Programm starten? Startpunkt ist das kommende Schuljahr 2024/2025. Es könnte aber laut der Eckpunkte sein, dass wegen der Planungs- und Vorbereitungszeit zunächst nur rund 1.000 Schulen an den Start gehen und dann zum Schuljahr 2026/27 die Zahl von 4.000 Schulen erreicht wird.
Wer bezahlt das Programm? Es ist geplant, dass der Bund jährlich etwa eine Milliarde Euro bereitstellt und die Länder genauso viel beisteuern. Über den geplanten Zeitraum von zehn Jahren – bis zum Ende des Schuljahres 2033/24 – wäre das eine Gesamtsumme von 20 Milliarden Euro. Angesichts knapper öffentlicher Kassen ist das ein Kraftakt. Die Länder können schon bestehende Programme bei der Kofinanzierung anrechnen.
Was beinhaltet das Programm im Detail? Die Schulen sollen eine bessere und modernere Lernumgebung bekommen. Zudem können sie über ein weitgehend frei verfügbares «Chancenbudget» selber finanzielle Schwerpunkte setzen. Außerdem soll die Entwicklung von Teams aus Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und anderen Fachkräften gefördert werden.
Wie werden die Schulen ausgewählt? Die Länder benennen die Schulen. Nach den Worten des Bildungsforschers Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung müssen sie dazu einen «Sozialindex» für die Schulen einführen, um die Schulen mit dem größten Unterstützungsbedarf auswählen zu können. Laut der Eckpunkte sollen die Kriterien «Armut» und «Migration» besonders berücksichtigt werden.
Was bewerten Experten positiv an dem Programm? Bildungsforscher Zorn spricht von einem «Paradigmenwechsel» im deutschen Bildungswesen. Das Geld werde nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip verteilt, sondern nach dem tatsächlichen Bedarf. Positiv zu werten sei auch, dass unter den 4000 geförderten Schulen 2400 Grundschulen sein sollen. Dort seien die Probleme oft besonders groß – dort könne man aber auch die größte Wirkung erzielen. Die beiden Forscher McElvany und Ludewig sehen das ähnlich: Den Schwerpunkt zu legen auf Schulen in herausfordernden Lagen und dabei insbesondere auch auf Grundschulen, sei ein sehr sinnvoller Ansatz.
Was bewerten Experten kritisch an dem Programm? Experte Zorn sagt: «Aus meiner Sicht ist das Programm zu klein dimensioniert.» Das Geld reiche nicht aus mit Blick auf die Größe der Probleme. Zudem bräuchten die Schulen vor allem auch mehr Stellen für Lehrer. Darauf verweisen auch McElvany und Ludewig: «Am Lehrkräftemangel kann das Programm kurzfristig nichts ändern.»
Wie sind die Reaktionen? Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken fordert bereits eine Verfünffachung der Mittel. «Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten», sagte sie dem «Handelsblatt». Das seien zehn Milliarden Euro pro Jahr statt der bisher vorgesehenen zwei Milliarden Euro von Bund und Länder zusammen. «Die Finanzierung wäre zweifellos ein Kraftakt, von dem aber unsere Volkswirtschaft als Ganzes profitieren würde.»
Der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Florian Fabricius, sagte, das neue Programm könne ein «Gamechanger» sein, weil erstmals zielgerichtet Geld verteilt werde an Schulen, die dies besonders nötig hätten. Er kritisierte aber, dass das Geld laut Programm nicht in ohnehin notwendige Sanierungs- und Instandsetzungen fließen darf. Kaputte Toiletten und tropfende Decken könnten damit also nicht repariert werden – das sei absurd, weil solche Reparaturen am nötigsten seien. Auch könne das Programm nichts ändern am Lehrermangel und an den Problemen mit der Digitalisierung an vielen Schulen.
Der bildungspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Thomas Jarzombek (CDU), meintge, das Startchancen-Programm löse die drängenden Probleme der Schulen nicht. «Wenn die Kinder in die Schule kommen und kein Deutsch können, dann reicht es nicht, ein Elterncafé oder eine Bibliothek zu bauen. Dringend notwendig ist ein verpflichtendes, vorschulisches Programm für Kinder mit Förderbedarf im fünften Lebensjahr.»
Und was ist eigentlich mit dem ebenfalls versprochenen Digitalpakt 2.0? Der Digitalpakt mit anfangs fünf Milliarden Euro des Bundes – er wurde finanziell mehrfach aufgestockt – ist ein Förderprogramm zum technischen Ausbau der Schulen, etwa mit Wlan oder Tablets. Er läuft im Frühjahr aus. Einige Politiker in den Ländern sind sauer, weil noch kein Nachfolgepakt festgezurrt ist (wie der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht). Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte kürzlich, dass der Bund zum Digitalpakt 2.0 stehe, aber erst die Mittel aus dem ersten Pakt genutzt werden müssten – das sei noch nicht vollständig der Fall.
Experte Zorn sagt klar: «Digitalität gehört heute zur Schule und dafür braucht es eigentlich mehr als einen Pakt.» Nötig sei eine dauerhafte, tragfähige Finanzierung. «Eine leistungsfähige digitale Ausstattung muss heute so selbstverständlich sein wie früher Tafel und Kreide.» Es fehle eine einheitliche Reformstrategie für das deutsche Bildungssystem. «Dafür bräuchten wir eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt.» Von Bettina Grachtrup, dpa
