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Schuljahresbeginn mit Bauchschmerzen: Wie der Leistungsdruck Schülern zusetzt – und Familien an Grenzen bringt

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DRESDEN. Die Sommerferien nähern sich in den ersten Bundesländern ihrem Ende – und mit dem neuen Schuljahr beginnt für viele Kinder nicht nur der Unterricht, sondern auch das Leiden. Immer mehr Schülerinnen und Schüler zeigen Anzeichen psychischer Überforderung. Fachleute schlagen Alarm: Der Schulstart wird für zu viele junge Menschen zum Kraftakt.

Am Limit (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Wenn in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am Montag die ersten Bundesländer ins neue Schuljahr starten, freuen sich längst nicht alle Kinder auf die Rückkehr in den Klassenraum. „Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Gereiztheit – das sind Beschwerden, mit denen sich immer mehr Kinder und Jugendliche an unsere Beratungsstellen wenden“, berichtet Dietrich Bauer, Vorstand der Diakonie Sachsen. Sein Fazit: „Kinder brauchen mehr als einen neuen Stundenplan.“ Sie bräuchten Begleitung, Verständnis – und Strukturen, die ihre psychische Gesundheit ernst nehmen.

Generation Dauerstress

Tatsächlich gibt es alarmierende Hinweise darauf, dass der schulische Druck auf Kinder und Jugendliche längst gesundheitsschädliche Ausmaße angenommen hat. Die jüngste HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, veröffentlicht im März 2024, zeigt: 42 Prozent der befragten 11- bis 15-Jährigen in Deutschland berichten über multiple psychosomatische Beschwerden – ein dramatischer Anstieg von 14 Prozent seit 2017. Vor allem Mädchen seien betroffen. Die Autoren sprechen von einer „enormen Zunahme“, insbesondere infolge der Corona-Pandemie.

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Und das ist nur ein Teil des Problems. Bewegungslosigkeit, ungleiche Gesundheitschancen, fehlende Gesundheitskompetenz und Mobbing belasten zusätzlich. Die WHO empfiehlt täglich 60 Minuten körperliche Aktivität – das erreichen laut Studie nur 10 Prozent der Mädchen und 20 Prozent der Jungen. Besonders problematisch: Je älter die Kinder, desto bewegungsärmer werden sie. Bei den 15-jährigen Mädchen bewegen sich nur noch sieben Prozent ausreichend.

„Wir sehen ganz klar: Die psychische Gesundheit junger Menschen verschlechtert sich – und Schule spielt dabei eine zentrale Rolle“, sagt Franziska Reiß, Studienleiterin der HBSC-Erhebung. Kein rein deutsches Phänomen: Auch Forscher der Universität Nottingham konnten jüngst in einer Analyse von fünf Millionen Gesundheitsakten aus Großbritannien belegen, dass die Zahl der Depressionen und Angststörungen bei Jugendlichen im Herbst signifikant ansteigt – also genau dann, wenn das Schuljahr beginnt.

Beratungsstellen am Limit

In der Praxis spüren das besonders die Fachkräfte der Erziehungsberatungsstellen. Die Diakonie Sachsen, Träger zahlreicher solcher Einrichtungen, warnt: Die Nachfrage steigt – doch die Ressourcen reichen nicht aus. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stemmen tagtäglich mehr, als dauerhaft tragbar ist“, so Bauer. Die Wartezeiten für ein Erstgespräch hätten sich vielerorts verdoppelt.

Bettina Rießner, Leiterin der Familienberatungsstelle St. Martin StattRand in Weißwasser, berichtet: „Für Familien in Not ist das eine dramatische Situation. Der Leidensdruck wächst, aber schnelle Hilfe ist kaum mehr möglich.“ Besonders gravierend sei der Rückgang präventiver Angebote. „Anti-Mobbing-Projekte, soziale Kompetenztrainings, Elternabende – vieles musste eingestellt oder drastisch reduziert werden“, so Ute Lämmel, Referentin bei der Diakonie Sachsen. Man reagiere nur noch auf Krisen, statt vorbeugend zu wirken.

Schulverweigerung, Notbetrieb, Überforderung

Was mitunter als vermeintliche „Befindlichkeiten“ von Schüler:innen abgetan wird, ist in Wahrheit ein gesamtgesellschaftliches Problem – und eines, das längst Strukturen sprengt. Die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe ist vielerorts ausgedünnt, spezialisierte Hilfen bei Schulverweigerung reduziert, Jugendämter arbeiten teils im Notbetrieb, medizinisch-therapeutische Angebote sind überlastet. „Die Erziehungsberatung fängt auf, was andere Systeme nicht mehr leisten können“, warnt die Diakonie.

Dabei sei der Rechtsanspruch auf Beratung nach § 28 SGB VIII gesetzlich verankert – doch die Realität sehe anders aus. Der von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung empfohlene Personalschlüssel (eine Fachkraft pro 2.500 Kinder) werde in Sachsen nicht eingehalten. Die Folge: Überforderung, unversorgte Kinder, verzweifelte Familien.

Diakonie fordert: Politik muss handeln

Die Diakonie fordert deshalb eine sofortige personelle und finanzielle Aufstockung der Beratungsstellen. „Es braucht ein Gesamtkonzept, das auch präventive Arbeit wieder ermöglicht“, so Ute Lämmel. Ebenso notwendig sei eine verlässliche Beteiligung freier Träger an der Jugendhilfeplanung – wie in § 36a SGB VIII vorgesehen. „Nur im Zusammenspiel aller Akteure lässt sich ein wirksames Unterstützungssystem sichern.“

Der Appell an die Politik ist deutlich: „Gerade zum Schulstart ist es unsere Aufgabe, Kinder und Jugendliche stärker in den Blick zu nehmen – nicht nur mit Blick auf Noten, sondern auf ihr seelisches Wohl“, mahnt Diakonie-Chef Bauer.

Schule als Schutzraum – oder Risikofaktor?

Die Bildungsinstitution Schule steht damit unter doppeltem Erwartungsdruck: Sie soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern zunehmend auch Schutzraum, Therapieersatz und Lebensbegleitung bieten. Doch diese Rolle kann sie ohne Unterstützung nicht erfüllen. „Wenn psychische Gesundheit weiter vernachlässigt wird, leidet am Ende auch die Bildung“, so Bauer.

Auch wissenschaftliche Studien zeigen, dass Schulen stärker gefordert sind, Kinder in ihrer Gesundheitsentwicklung zu unterstützen. Die HBSC-Studie etwa belegt: Viele Kinder und Jugendliche haben nicht nur körperliche und psychische Beschwerden – ein Viertel von ihnen verfügt zudem über eine niedrige Gesundheitskompetenz. Das heißt: Sie können Informationen zu Gesundheitsthemen kaum einordnen und anwenden. Gleichzeitig zeigt die Studie deutliche Unterschiede je nach sozialer Herkunft: Wer aus einem einkommensschwachen Elternhaus kommt, leidet häufiger unter schlechter Gesundheit und niedriger Lebenszufriedenheit.

Vor diesem Hintergrund fordert Franziska Reiß vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: Der kompetente Umgang mit Gesundheitsinformationen müsse in den Lehrplan – gesetzlich verankert. Es dürfe nicht vom Engagement einzelner Schulen abhängen, ob sich Kinder und Jugendliche gesund entwickeln können – und: „Soziale Herkunft darf nicht darüber entscheiden, ob ein Kind psychisch gesund ist.“ News4teachers

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