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Zehntausende Schüler müssen Schuljahr wiederholen – Fleischmann: Schluss damit!

MÜNCHEN. In Bayern wiederholen deutlich mehr Schülerinnen und Schüler eine Klasse als im Bundesdurchschnitt – über 20.000 Kinder und Jugendliche waren es zuletzt in nur einem Schuljahr. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann hält das für pädagogisch unsinnig – und fordert gezielte Förderung statt „extrem demotivierender“ Ehrenrunden.

Zurück an den Start. Illustration: Shutterstock

Im Schuljahr 2023/24 lag der deutschlandweite Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine Klassenstufe wiederholten, bei durchschnittlich 2,2 Prozent. In Bayern fiel der Wert jedoch deutlich höher aus: 3,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mussten dort im gleichen Zeitraum die Klasse wiederholen – damit steht der Freistaat an einem unrühmlichen zweiten Platz im bundesweiten Vergleich hinter Mecklenburg-Vorpommern (3,7 Prozent).

In absoluten Zahlen waren es knapp 22.000 Schülerinnen und Schüler, die im Freistaat ihre Klassenstufe wiederholen mussten. Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, findet dazu deutliche Worte: „Wissenschaftliche Studien beweisen es und meine Erfahrungen aus der Praxis bestätigen es: Sitzenbleiben bringt nichts.“ Das Konzept basiere, so Fleischmann, „auf einem völlig überholten Leistungsverständnis, das mit pädagogisch sinnvollen Maßnahmen nichts zu tun hat.“ Im Gegenteil wirke es „extrem demotivierend“ auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen. „Was bei den Kindern und Jugendlichen hängenbleibt, ist: Du schaffst es nicht.“

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Ein besonders deutliches Beispiel beschreibt sie am Fach Mathematik: „Wenn eine Schülerin in Mathematik – das ist ja so der Klassiker – einen Sechser hat und deswegen in der achten Klasse sitzen bleibt, dann muss man herausfinden, wo die grundlegende defizitäre Entwicklung ist: Was kann das Mädchen nicht, wo hat sie aufgehört, in Mathematik chronologisch dem Lernzyklus zu folgen? Wo ist die grundlegende Lücke bei diesem Mädchen? Genau da müssen wir dann die passende Fördermaßnahme für diese Lücke anschließen. Am besten individuell oder zumindest in Kleingruppen mit Kindern, denen es ähnlich geht.“

Das starre Wiederholen eines ganzen Schuljahres sei dagegen kontraproduktiv. „Wenn das Mädchen stattdessen wegen einem Sechser das ganze siebte oder das ganze achte Schuljahr wiederholen muss, ist wahnsinnig viel verloren. Das Mädchen verliert Zuversicht. Und eigentlich kapiert ohnehin niemand, warum ich wegen einem Fach auch alle anderen Fächer nochmal machen muss. Deswegen wäre eine gezielte Förderung für ihr konkretes Problem besser – und eben nicht das pauschale Sitzenbleiben.“

Fleischmann betont, dass differenzierte Lernangebote nicht nur jenen helfen, die sich schwertun. „Modernes Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass wir individuell hinschauen: ‘Hey, was kannst du richtig gut? Wie können wir deine Stärken stärken?‘ Denn wir dürfen auch die nicht vergessen, die permanent unterfordert sind.“ Die Schule müsse deshalb für leistungsstarke Kinder genauso wie für Schülerinnen und Schüler mit gravierenden Lücken passende Gruppen und Förderangebote schaffen.

„Wir haben an Grundschulen, Mittelschulen und Förderschulen seit Jahren Lehrermangel“

Doch genau daran fehle es, sagt sie: „Wir Lehrerinnen und Lehrer haben gelernt, mit unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern umzugehen – ob Top-Talente oder Kinder, die sich hart tun im Rezipieren von Texten oder die in Mathematik schon am Zehnerübergang gescheitert sind. Dann braucht es die individuelle Förderung: Dann muss ich Zeit haben, in einer Kleingruppe die Schüler zusammenzufassen, die eben diesen Zehnerübergang in der Grundschule noch nicht draufhaben. Dann muss ich Zeit haben, in einer extra Arbeitsgemeinschaft Leseunterstützung zu geben. Dann muss ich eine Fördergruppe installieren für die Kinder, die Dyskalkulie haben. Dann muss ich eine Kleingruppe bilden mit Fachpersonal, mit Förderlehrern, die ihnen genau da helfen, wo der nächste Sprung zum Verstehen noch nicht gemacht werden kann. Das ist moderne Bildung, das ist moderne Pädagogik.“

Allerdings sei das in der Realität kaum möglich, warnt Fleischmann – vor allem in Bayern. „Wir haben an Grundschulen, Mittelschulen und Förderschulen seit Jahren Lehrermangel. Lehrermangel heißt: Wir sind schon zu wenige, um überhaupt den Pflichtunterricht abzudecken. Kinder individuell zu fördern, können wir also überhaupt nicht anbieten. Uns fehlen hinten und vorn eben die nötigen Differenzierungsmöglichkeiten, die kleinen Gruppen, die Fördergruppen, die explizit auf einzelne Schwächen ausgerichteten individuellen Fördermöglichkeiten. Und genau da ist der Wurm drin. Und das seit Jahren!“

„Das hat mir auch nicht geschadet“? Von wegen

Gegen die oft gehörte Rechtfertigung für Sitzenbleiben hält die BLLV-Chefin entschieden: „Es ist nämlich nicht so, wie viele meinen: ‘Mein Gott, der Fünfer hat mir auch nicht geschadet, da musst du halt mal eine Ehrenrunde drehen.‘ Wir können es uns gar nicht leisten, dass Kinder demotiviert sind! Schule soll motivieren zum lebenslangen Lernen. Deswegen muss wirklich alles dafür getan werden, dass es Menschen gibt, die diese Förderung wieder anbieten können. Mehr Förderlehrer, mehr Schulpsychologen, mehr Profis, die Kinder individuell in der Schule begleiten können.“

Ein System, das auf außerschulische Nachhilfe verweist, sei untragbar: „Wir können uns da nicht auf außerschulische Förderung verlassen, denn manche Eltern können sich keine Nachhilfe leisten. Das ist ein Armutszeugnis für das Schulsystem.“

Für Fleischmann ist klar: „Wir im BLLV wollen auch Leistung. Wir wollen, dass Kinder Höchstleistungen bringen, dass wir Stakeholder haben, dass wir Kinder haben, die ihre Talente gefördert kriegen. Aber wir wollen eben auch die krasse Bildungsungerechtigkeit bekämpfen, indem wir die anderen Kinder auch mitnehmen. Das ist unser Leistungsbegriff.“

Dass manche Politiker am traditionellen Sitzenbleiben festhalten, wertet sie als Rückschritt: „Ich bin dagegen, dass wir an einem alten, sehr traditionellen Leistungssystem festhalten. Was aber natürlich viele Menschen in der Bevölkerung wollen – schlicht, weil sie nur das selbst kennen. Wir wissen aber aus der Wissenschaft und auch durch unsere eigene Erfahrung, dass Kinder einen ganzheitlichen Leistungsbegriff brauchen, dass wir andere Lernmethoden brauchen – und dazu gehören auch andere Feedbackmethoden.“

Regelmäßiges, wertschätzendes Feedback sei aus ihrer Sicht „essentiell für Lernerfolge. Wenn ich Kinder beschreibe und in passenden Worten überlegt Feedback gebe, ist das lernförderlich, motivierend und professionell.“

„Wir brauchen aber kein Lehrer-Bashing, sondern wir müssen klären: Was braucht die Schule als System, um diesen Kindern gerecht zu werden?“

In Richtung Politik und Gesellschaft macht Fleischmann deutlich, dass es keine einfachen Lösungen gebe: „Manche sagen ganz einfach: ‘Müssen die Lehrer halt mehr arbeiten und diese Förderung anbieten.‘ Mit diesem ‘Argument‘ möchte ich aufräumen und sage: Das geht halt nur, indem wir eine Kleingruppe haben, indem wir eine individuelle Fördergruppe haben, indem wir nach Stärken und Schwächen der Kinder die Möglichkeit haben, mit sieben, acht Kindern explizit an ihren Schwächen zu arbeiten.“

Und weiter: „Wir brauchen aber kein Lehrer-Bashing, sondern wir müssen klären: Was braucht die Schule als System, um diesen Kindern gerecht zu werden? Ich bin überzeugt davon, dass alle wollen, dass Kinder individuell abgeholt werden und jeder entsprechend seiner Kapazitäten Erfolge einfährt. Denn wir sind in der Gesellschaft zu wenig junge Menschen. Wir können und dürfen keinen einzigen verlieren.“

Die Lösung sieht Fleischmann darin, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen: „Wenn Lehrkräfte sagen könnten: ‘Wir schaffen das. Wir können jedem Kind gerecht werden.‘ Dann wären mehr junge Leute Lehrerinnen oder Lehrer. Dann haben wir das Problem bei der Wurzel gepackt. Dann haben wir nämlich genug professionellen Nachwuchs!“ News4teachers 

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