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Messerangriffe an Schulen – Sozialforscher: „Mit Metalldetektoren am Eingangstor lässt sich eine Kultur der Gewalt nicht bekämpfen”

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ESSEN. Der Fall von Essen, bei dem eine Lehrerin von einem Schüler mit einem Messer attackiert und schwer verletzt wurde, wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf eine bedrohliche Entwicklung: Die Zahl der Messerangriffe durch Kinder und Jugendliche steigt deutlich – auch an Schulen. Eine aktuelle Studie zeigt: Schülerinnen und Schüler verfügen heute über weniger Selbstkontrolle und schwächere moralische Einstellungen als noch vor zehn Jahren. Ein Experte warnt vor einer gefährlichen Dynamik. Und vor allzu einfachen Lösungen. 

Zunehmende Gewaltbereitschaft. Illustration: Shutterstock

Bielefeld, ein Juni-Morgen in der Gesamtschule Rosenhöhe: Zwei Polizisten stehen vor einer sechsten Klasse. Sie sprechen über ein Thema, das dort eigentlich nichts verloren haben sollte – Messer. Die Beamten erklären den Kindern eindringlich, dass es keine gute Idee ist, eine Klinge bei sich zu tragen. Um die Botschaft zu verstärken, zeigen sie ein Video: ein Opfer, das einen Messerangriff knapp überlebt hat, ein Täter, der im Gefängnis sitzt, ein Imam, ein Priester, ein Influencer. Ihre gemeinsame Botschaft: „Nehmt kein Messer mit – auch nicht zur Selbstverteidigung. Denn wer es dabei hat, setzt es auch ein.“

„Schon in der Grundschule kommt es vor, dass Eltern ihrem Kind ein Messer mitgeben, weil sie glauben, dass das Kind dann sicher ist“, sagt Hauptkommissarin Gabi Ballmann gegenüber dem ZDF. Die Bielefelder Polizei greift deshalb schon früh ein – eben in der Unterstufe.

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Der Hintergrund: Die Zahlen steigen. Allein in Nordrhein-Westfalen gab es 2023 über 3.500 Messerangriffe im öffentlichen Raum – ein Plus von 43 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Fast die Hälfte der Verdächtigen war unter 21 Jahre alt, acht Prozent sogar Kinder bis 13. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sprach bei der Vorstellung des Lagebilds von einem „Männlichkeits-Gehabe“, das oft hinter der Gewalt stehe.

Besonders beunruhigend ist die Entwicklung an Schulen selbst. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik in NRW wurden in der Schule und bei schulischen Veranstaltungen 2019 noch 182 Messerattacken registriert. Während der Pandemie 2020 sank die Zahl zunächst auf 94. Doch 2023 schnellte sie auf 217 Fälle hoch – deutlich über das Vor-Corona-Niveau. 2024 waren es 201, allerdings wurde zuvor die Definition des Tatbestands geändert, weshalb die Zahlen nur eingeschränkt vergleichbar sind. Bundesweit zeigen Auswertungen des Deutschen Jugendinstituts, dass vor allem Körperverletzungen durch Kinder unter 14 Jahren (plus 19 Prozent) und Jugendliche zwischen 14 und 18 (plus 14 Prozent) zunahmen, wie der WDR berichtete.

„Eine moralische Ablehnung von delinquentem Verhalten ist in beiden Jahrgängen weniger stark verbreitet als noch vor ca. 10 Jahren“

Eine Erklärung liefert eine Untersuchung des Reinhard Selten Instituts der Universitäten Bonn und Köln, veröffentlicht im April 2025. Die Wissenschaftler verglichen aktuelle Befragungen von Siebt- und Neuntklässlern in Gelsenkirchen, Herten und Marl mit Daten aus den Jahren 2013/14. Ergebnis: Jugendliche verfügen heute im Schnitt über weniger Selbstkontrolle und schwächere moralische Einstellungen. So bewerteten Siebtklässler Verhaltensweisen wie das Schlagen von Mitschülern deutlich weniger verwerflich als vor zehn Jahren.

Die Autoren schreiben dazu: „Verglichen mit der Erhebung vor ca. 10 Jahren finden wir im 7. und im 9. Jahrgang einen statistisch signifikanten Rückgang der selbst eingeschätzten Selbstkontrolle. Dieser Trend ist bei den Mädchen stärker ausgeprägt als bei den Jungen.“ Und weiter: „Eine moralische Ablehnung von delinquentem Verhalten ist in beiden Jahrgängen weniger stark verbreitet als noch vor ca. 10 Jahren. Auch dieser Trend ist statistisch signifikant und zeigt sich deutlicher für Mädchen als für Jungen.“

Besorgniserregend sei zudem, dass auch wenn über 83 Prozent der Jungen und über 90 Prozent der Mädchen angaben, nie ein Messer mit sich zu führen, die kleine Minderheit, die regelmäßig Waffen dabeihat, nicht vernachlässigbar sei. Denn: Wer eine Waffe besitzt, ist schneller bereit, sie auch einzusetzen. Die Studie hält fest: „Der Selbstauskunft zufolge hat der Großteil der Schülerinnen und Schüler (~85 %) weder in der Schule noch in der Freizeit jemals ein Messer dabeigehabt. Von den Schülerinnen und Schülern, die angegeben haben, schon einmal ein Messer getragen zu haben, gaben die meisten an, es aus defensiven Gründen oder im Rahmen von Freizeitaktivitäten mit sich geführt zu haben.“

Sozialforscher: „Wer sich als Opfer sieht, wird leichter Täter“

Der Augsburger Sozialforscher Prof. Jens Luedtke warnte im Interview mit der Zeit bereits im vergangenen Jahr davor, die Entwicklung kleinzureden. „Ob sich gerade grundlegend etwas verändert, kann man noch nicht abschätzen. Ich befürchte aber, dass es in den kommenden Monaten weitere Fälle von Messergewalt geben könnte.“ Warum? „Weil nun ein Verhaltensmodell in der Welt ist, das Jugendliche sich zum Vorbild nehmen. Bei den Amokläufen Anfang der 2000er-Jahre war es ähnlich.“ Das sei weniger Nachahmung, sondern eher die Etablierung einer möglichen Handlungsweise: „Messergewalt wird zu einer Option – ob im Umfeld oder in den Medien beobachtet.“

Besonders gefährlich sei die Dynamik: „Wer eine Waffe dabeihat, ist schneller bereit, einen Konflikt einzugehen. Und seine Waffe einzusetzen.“ Daten zeigten, dass heute jeder fünfte Jugendliche ein Messer mit in die Schule nehme. Luedtke erklärt: „Besonders häufig machen das Jugendliche, die schon mal selbst bedroht wurden. Anders gesagt: Wer sich als potenzielles Opfer sieht, ist eher dazu bereit, zum Täter zu werden. Häufig gibt es eine Vorgeschichte, und es kommt zu einer Gewaltspirale.“

„Mit Metalldetektoren am Eingangstor lässt sich eine Kultur der Gewalt nicht bekämpfen“

Auch die familiären Umstände spielen eine Rolle: „Je mehr und je intensiver ein Kind in der Familie selbst Gewalt erfährt, desto eher wird es selbst in der Schule übergriffig. Dazu kommt: Wird man mit einem gewaltaffinen Rollenbild von Männlichkeit groß – ob in der Familie, im Freundeskreis oder im Internet –, steigt die eigene Bereitschaft, zur Waffe zu greifen.“ Luedtke warnt zugleich vor vereinfachten Schuldzuweisungen: „Das oft behauptete eindeutige Täterprofil – jung, männlich, migrantisch – geben die Daten nicht her. Richtig ist, dass in sozial schwächer gestellten Milieus Gewalt häufiger vorkommt. Und zu diesen Milieus zählen überproportional viele Migranten.“

Wie lässt sich gegensteuern? „Gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalprävention“, so Luedtke. Dazu brauche es eine gesellschaftliche Debatte darüber, warum Gewalt nicht akzeptabel sei. „Mit Metalldetektoren am Eingangstor lässt sich eine Kultur der Gewalt nicht bekämpfen. Und Lehrer können nicht auch noch als Psychologen einspringen. Ein pazifistisches Schulklima, in dem Gewalt null toleriert wird, ist ein Anfang. Aber das klingt einfacher, als es ist.“

Präventionsprogramme der Polizei, wie das in Bielefeld, leisten dafür zumindest einen Beitrag, immerhin. News4teachers 

Hier geht es zur Studie des Reinhard Selten Instituts.

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