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IQB-Debakel: “Bildung muss Chefsache werden”: Schulforscher nimmt Merz in die Pflicht

AUGSBURG. Deutschland steht beim Thema Bildung „am Tiefpunkt“. So drastisch formuliert es der renommierte Augsburger Schulpädagoge Prof. Klaus Zierer angesichts der jüngsten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends. Die Daten seien so alarmierend, dass man – so Zierer – „von einem Nationalen Bildungsnotstand sprechen“ müsse. Dabei sei nun der Bundeskanzler gefordert. 

“Dramatischer Sinkflug”: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Foto: Shutterstock / photocosmos1

„Unser Land ist am Tiefpunkt, was Wissen und Können, Interesse und Motivation beim Lernen betrifft“, erklärt Zierer. „Radikales und sofortiges Umsteuern ist notwendig.“ Die bisherigen politischen Versuche, durch zusätzliche Ressourcen und neue Strukturen gegenzusteuern, hält er für „völlig gescheitert“. Das Land stehe „vor einem Scherbenhaufen und braucht einen mentalen Paradigmenwechsel. Nur so lässt sich die Zukunft unserer Kinder, aber auch von Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft sichern.“

Alarmierende Zahlen aus dem IQB-Bildungstrend

Der ehremalige Grundschullehrer, der gemeinsam mit dem weltweit wohl bekanntesten Bildungsforscher Prof. John Hattie gemeinsam Bücher herausgegeben hat („Kenne deinen Einfluss!“) verweist auf die Ergebnisse des aktuellen IQB-Berichts, die aus seiner Sicht „nichts anderes als ein pädagogisches Erdbeben“ seien. Der „flächendeckende Leistungsabfall in Mathematik und Naturwissenschaften in fast allen Bundesländern“ zeige, dass das Bildungssystem strukturell erschöpft sei.

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Besonders erschreckend: „Jeder dritte Jugendliche der 9. Jahrgangsstufe erreicht in diesen Fächern nicht die Mindeststandards des Mittleren Schulabschlusses.“ Damit sinken die Leistungen „seit 13 Jahren auf einen absoluten Tiefpunkt“.

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen hatte für die Erhebung 48.279 Schülerinnen und Schüler aus 1.556 Schulen getestet – mit durchgängig negativen Trends. Die Anteile der Jugendlichen, die die Bildungsstandards verfehlen, „sind seit 2012 bzw. 2018 massiv gestiegen“, so Zierer.

Hinzu komme die wachsende soziale und sprachliche Heterogenität: „Die migrationsbezogene Heterogenität der Schülerschaft ist wegen fehlender Integration, vor allem mangelnder Deutschkenntnisse, weiter gestiegen.“ Auch das Interesse der Jugendlichen an schulischen Fächern sei eingebrochen. „Bei vielen Schülern ist es sehr gering – etwa 50 Prozent in Mathematik, Chemie und Physik, 43 Prozent in Biologie.“ Darüber hinaus beobachtet Zierer eine wachsende psychische Belastung: „Etwa 17 Prozent der Jugendlichen insgesamt und 27 Prozent der Mädchen geben an, dass sie häufig emotionale Probleme haben – Sorgen, Ängste, Niedergeschlagenheit.“

„Politik reagiert mit Besorgnis – aber ändert nichts“

Aus Sicht des Pädagogen hat die Bildungspolitik die Lage weder richtig erkannt noch wirksam reagiert. „Die vom IQB genannten politischen und strukturellen Maßnahmen sind gut gemeint, reichen aber bei weitem nicht aus“, erklärt Zierer. Förderprogramme „egal ob mit Geld, Personal oder Technik, haben schon bisher keinen Erfolg gebracht – im Gegenteil“. Der Umgang der Politik mit den alarmierenden Zahlen sei symptomatisch: „Auf die jüngste Bildungspleite wird mit ‚Besorgnis‘ reagiert, aber der politische Kurs wird in der Regel nicht geändert – was wirklich besorgniserregend ist.“

Seine Forderung: Bildung müsse „Chefsache“ werden. Zierer schlägt die Einrichtung eines Sonderbeauftragten im Kanzleramt vor, „der den Bildungsdiskurs von parteipolitischen Ideologien befreit, die Bildungsminister der Länder an die Hand nimmt und einen pädagogischen Kompass mitbringt.“

„Der Nimbus als Bildungsnation ist verloren“

Auch der internationale Vergleich spricht nach Ansicht Zierers eine klare Sprache: Deutschland habe „bereits bei den fachlichen Basiskompetenzen in den internationalen Schulleistungsstudien einen Tiefpunkt erreicht“. In PISA 2022/23 habe das Land „in allen drei getesteten Bereichen – Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften – sein bisher schlechtestes Ergebnis erzielt“. Besonders deutlich werde dies am Beispiel Bayerns, wo die vielbeschworene „PISA-Offensive“ nichts bewirkt habe: „Die Empirieferne der Bildungspolitik zeigt sich dort exemplarisch.“

Die „nüchterne Zwischenbilanz“ sei ernüchternd: „Die Bildungspolitik hat enorm versagt. Deutschland befindet sich in einem dramatischen Sinkflug und hat den Nimbus als Bildungsnation verloren.“ Der Zustand der Schulen – marode Gebäude, Lehrermangel, Überforderung – zeige, „dass die bisherigen Steuerungsversuche endgültig gescheitert sind“. Aus dieser „völligen Bildungskatastrophe“ komme man, so Zierer, „nur mit einem straffen Notfallplan“ heraus.

Ein 5-Punkte-Plan für die Wende

Der Augsburger Bildungsforscher legt deshalb einen „Notfallplan Bildung“ mit fünf Punkten vor, den er „am Beispiel Bayerns“ konkretisiert – in Wahrheit aber wohl als bundesweiten Appell versteht.

  1. Bildung first: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung ohne Rücksicht auf Herkunft oder gesellschaftliche Stellung“, zitiert Zierer aus der Landesverfassung – und erinnert daran, dass dieser Anspruch keine Selbstverständlichkeit sei. „Die Wahrnehmung schulischer Angebote gibt es weder zum Nulltarif, noch ohne persönliche Voraussetzung.“ Schulpflicht müsse „konsequent durchgesetzt“ werden: „Schwänzen und vorzeitiger Ferienantritt sind keine Kavaliersdelikte.“ Bildung sei „unbezahlbar wertvoll“ und müsse wieder gesellschaftlichen Vorrang haben.
  2. Anstrengung, Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft: „Gemäß dem klassischen Grundsatz Per aspera ad astra sind große Erfolge nur durch harte Arbeit, Durchhaltevermögen, Entbehrungen und Herausforderungen erreichbar“, schreibt Zierer. Zentral sei das „Grundwissen“, das „gerade angesichts von Digitalisierung und KI wichtiger denn je“ sei, um Inhalte „einordnen, verstehen und schließlich beurteilen“ zu können. Lehrpläne müssten „wieder viel stärker auf Verbindlichkeiten ausgerichtet“ werden und eine „Entrümpelung erfahren, um mehr fachliche Tiefe anstelle oberflächlicher Breite“ zu erzielen.

  3. Unterrichtsqualität ins Zentrum rücken: Nicht nur die Schülerinnen und Schüler müssten sich anstrengen, „auch für Lehrer gilt: Stillstand ist Rückschritt.“ Zierer fordert eine Neuausrichtung der Lehrerbildung: „Lehrerbildung muss weg vom Einzelkämpfer hin zum Teamspieler, weg von der Rolle des Fachvermittlers hin zum Bildungsagenten, weg von der Separierung der Phasen hin zu einem integrativen Ansatz, in dessen Zentrum Lehrerhaltungen stehen.“

4. Kollektive Wirksamkeit von Eltern und Lehrern: „Lehrer sind weder die natürlichen Feinde von Schülern, noch von Eltern“, betont Zierer. Schule dürfe „für Eltern keine Serviceagentur zum Zertifikatserwerb sein“, sondern ein gemeinsamer Bildungsraum. Kooperation müsse von „Interesse und Unterstützung, Präsenz und Kooperation, Respekt und Vertrauen“ geprägt sein. Als konkreten Schritt fordert er, „alle Arten digitaler Elternabende, -sprechstunden und Videokonferenzen abzuschaffen“. Nichts ersetze den persönlichen Kontakt zwischen Schule und Elternhaus.

  1. 90 Prozent Bildung – 10 Prozent Politik: „Bisher war Bildungspolitik vor allem fachfremde Parteipolitik“, resümiert Zierer. Statt rhetorischer Beschwörungen der „Schulfamilie“ brauche es „optimale Rahmenbedingungen für bestmögliche Bildung“. Grundlage müsse die Expertise von Fachleuten sein, „auch wenn dies Parteiprogrammen oder persönlichen Karrieremotiven entgegensteht“. Als symbolischen ersten Schritt fordert er: „Eine komplette Abkehr vom Digitalisierungswahn wäre ein erster Schritt für eine evidenzbasierte Bildungspolitik.“

„Bildung muss nun Chefsache werden“

Zierers Fazit: „Bildung muss nun Chefsache werden.“ Nur wenn Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) selbst Verantwortung übernehme und eine bildungspolitische Richtungsentscheidung treffe, könne der Niedergang gestoppt werden. „Wir brauchen endlich jemanden im Kanzleramt, der Bildung strategisch denkt, parteiübergreifend koordiniert und den Ländern einen pädagogischen Kompass an die Hand gibt.“

Der Schulpädagoge versteht seinen Appell nicht als akademische Analyse, sondern als Weckruf: „Die Zukunft unserer Kinder entscheidet sich jetzt – nicht in den nächsten Legislaturperioden.“ News4teachers 

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