Im Abwärtsstudel: Das Ruhrgebiet zieht als “bildungspolitische Verliererregion” ganz Deutschland mit nach unten

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DORTMUND. Die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sinken bundesweit, das macht  – einmal mehr – der aktuelle IQB-Bildungstrend deutlich. Und doch gibt es deutliche Unterschiede in der Dimension der Probleme: In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, ist der Absturz besonders stark. Und innerhalb von NRW gibt es nochmal ein Gefälle: Das Ruhrgebiet, Deutschlands größter Ballungsraum, droht völlig abzurutschen. Bildungsarmut, fehlende Frühförderung und Lehrkräftemangel verstärken sich hier gegenseitig – und ziehen ganz Deutschland in der Bilanz (und den Perspektiven) nach unten. 

Schicht im Schacht. Foto: Shutterstock

Auf dem Nordmarkt in Dortmund riecht es nach gegrilltem Fleisch, billigem Benzin und Abgasen. Zwischen den Marktständen schieben sich Mütter mit Plastiktüten, Kinder rennen barfuß über den Asphalt. Am Rand des Platzes halten zwei Frauen mit Klemmbrett und ernster Miene eine Familie an. „Warum sind die Jungs nicht in der Schule?“, fragt eine von ihnen. Die Mutter zuckt die Schultern. „Sie wurden beschnitten, es blutet noch etwas.“ Ein paar Minuten später trifft das Duo auf den Vater eines Mädchens, das seit Wochen nicht im Unterricht war. „Melissa in Rumänien“, sagt er knapp – die Familie sei aus der Wohnung geflogen.

Diese Szene, festgehalten von Zeit-Reportern schon 2022, ist Alltag in der Dortmunder Nordstadt, einem der ärmsten Stadtteile Deutschlands. Die Nordmarkt-Grundschule liegt mittendrin. 94 Prozent der Familien dort leben von staatlicher Unterstützung, 416 von 420 Schülerinnen und Schülern haben eine Migrationsgeschichte. Nur ein oder zwei Kinder pro Klasse sprechen fließend Deutsch. Manche kommen hungrig, andere tragen zu kleine Schuhe. „Wenn die Kinder am Ende der vierten Klasse ein bisschen lesen und rechnen können, ist das schon ein Erfolg“, sagt Schulleiterin Alma Tamborini.

Am vergangenen Donnerstag erschien der IQB-Bildungstrend, ein nach Bundesländern aufgeschlüsselter Vergleich von Schülerleistungen. Die wahrgenommene Botschaft: Deutschlands Bildungssystem rutscht ab. Und tatsächlich sind die Kompetenzen in Mathematik und den Naturwissenschaften, den getesteten Bereichen, überall – doch fast nirgends so deutlich wie im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (News4teachers berichtete).

„In allen Schulformen, allen Fächern und allen Kompetenzbereichen bleibt das Ruhrgebiet hinter den anderen Landesteilen zurück“

Und innerhalb von NRW ist es nicht das wohlhabende Rheinland von Bonn bis Düsseldorf, das als Problemzone gelten muss. Es ist das Ruhrgebiet, das die Statistik nach unten zieht – der größte zusammenhängende Ballungsraum Deutschlands. Der Bildungsbericht Ruhr, erschienen Ende des vergangenen Jahres, zeigt, wie tief die Krise dort reicht – und wie sie sich auf das gesamte Land auswirkt.

„In allen Schulformen, allen Fächern und allen Kompetenzbereichen bleibt das Ruhrgebiet hinter den anderen Landesteilen zurück“, heißt es im Bericht wörtlich. Die Forscherinnen und Forscher nennen die Befunde „erschreckend“: In der sogenannten Metropole Ruhr (wie sich das Ruhrgebiet selbst gerne nennt) erreiche „ein Drittel der Drittklässler*innen den Mindeststandard im Lesen nicht, in einigen Großstädten sind es über 40 Prozent“. In Mathematik verfehle etwa ein Viertel der Kinder die Mindeststandards.

Noch düsterer ist das Bild in den weiterführenden Schulen: Von den Achtklässlerinnen und Achtklässlern, die einen einfachen Schulabschluss anstreben, „verfehlen 80 bis 85 Prozent die Mindestanforderungen im Fach Deutsch“. Selbst bei den Jugendlichen mit dem Ziel eines mittleren Abschlusses erreichten „40 bis 45 Prozent“ die Mindeststandards nicht.

Der Bildungsbericht warnt vor einer „Verfestigung problematischer Tendenzen“ und spricht von „dramatischen“ Entwicklungen. Das Ruhrgebiet sei „aufgrund seiner strukturellen und sozialen Probleme weniger krisenresilient als andere Regionen und könne von Gunstphasen weniger profitieren“. Die Region sei „besonders schwer betroffen“ und habe „geringere Handlungsspielräume, die Herausforderungen anzugehen“.

Tatsächlich potenzieren sich im Revier alle Probleme, die den IQB-Forschern bundesweit Sorgen bereiten: Bildungsarmut, fehlende Frühförderung, zu wenig Integration, Lehrkräftemangel. „Die wirtschaftliche und soziale Lage vieler Familien im Ruhrgebiet ist prekär“, hält der Bericht fest. Eine „hohe Armutsquote, niedrige Bildungsabschlüsse der Eltern und ein hoher Anteil an Familien ohne Erwerbstätige“ beeinträchtigten die Bildungschancen vieler Kinder. Besonders Kinder aus Migrantenfamilien müssten „sprachliche und kulturelle Barrieren überwinden“ – eine Mehrfachbelastung, die „dazu führt, dass sie in den Bildungseinrichtungen oft zusätzliche Förderung benötigen, um mit ihren Altersgenossen Schritt zu halten“.

Hinzu kommt eine beunruhigende Entwicklung in der frühkindlichen Bildung. Während bundesweit der Ausbau von Kitas als Erfolg gilt, zeigt der Bildungsbericht: „Bei den drei- bis unter sechsjährigen Kindern hat sich die Betreuungsquote in der Metropole Ruhr überproportional verschlechtert.“ 2013 waren 92,7 Prozent dieser Altersgruppe in einer Kita betreut, 2023 nur noch 86,5 Prozent. Der Anteil der unbetreuten Fünfjährigen habe sich „seit 2019 nahezu verdoppelt“. In manchen Kommunen liege er zwischen 13 und 16 Prozent.

Damit würden immer mehr Kinder ohne jede Förderung eingeschult – „eine Entwicklung, die erhebliche regionale Unterschiede und wachsende Defizite bei der Einschulung, insbesondere im Bereich Sprache“, mit sich bringe.

Der Bildungsbericht Ruhr nennt auch die Lage an den Schulen „besorgniserregend“. Mehr als ein Drittel aller Grundschulen gelten demnach als „Schulen in herausfordernder Lage“, in mehreren Städten seien es über die Hälfte. Diese Schulen arbeiteten „unter starkem Druck, sowohl hinsichtlich der Schulinfrastruktur als auch der pädagogischen Arbeit“. Besonders dort fehle es an Lehrkräften, um „die zunehmend heterogene Schülerschaft angemessen zu unterrichten“. Wer will schon im Brennpunkt arbeiten, wenn vergleichsweise beschauliche Standorte in der Nachbarschaft locken? Der Fachkräftemangel sei „ein Engpassfaktor entlang der gesamten Bildungskette“, heißt es.

„Zusätzliche Förderung, Sprachunterricht, was so wichtig wäre für den Schulerfolg der Kinder, das wird weiterhin nicht ausreichend stattfinden“

Die Bezirksregierung Münster versucht, gegenzusteuern – und Lehrerinnen und Lehrer aus dem wohlhabenden Münsterland in Städte wie Gelsenkirchen, Recklinghausen oder Bottrop zu schicken. „Mit den Abordnungen decken wir das Allernötigste ab“, sagt Behördenleiter Matthias Schmied in der Zeit. „Aber zusätzliche Förderung, Sprachunterricht, was so wichtig wäre für den Schulerfolg der Kinder, das wird weiterhin nicht ausreichend stattfinden.“

Die ehemalige Lehrerin und Grünen-Landtagsabgeordnete Birgit Schuhmann stellt in einem Kommentar fest: Die Ergebnisse des Berichts seien „niederschmetternd“. Der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreichen, sei „deutlich größer als in anderen Landesteilen“. Besonders erschreckend findet sie, „dass die Defizite nicht punktuell, sondern flächendeckend auftreten“.

Sie hebt hervor, dass „die Vermittlung von Basiskompetenzen an Schulen in benachteiligten Lagen deutlich schlechter als an Schulen in bessergestellten Gebieten gelingt“. Das Ruhrgebiet sei, so Schuhmann, eine Region, „in der sich Armut, Migration und Bildungsdefizite gegenseitig verstärken“. Von Chancengleichheit könne hier keine Rede mehr sein. Die Zahlen belegten, dass das Bildungssystem „in großen Teilen des Ruhrgebiets seine kompensatorische Funktion verloren hat“. Statt Aufstiegschancen zu eröffnen, reproduziere es soziale Ungleichheit.

Schuhmann wirft den Verantwortlichen zudem vor, dass sie die strukturellen Ursachen nicht beim Namen nennen: „Die Problemlagen werden in bürokratische Formeln verpackt, die Dramatik der Situation aber wird sprachlich entschärft.“ Sie verweist auf die steigende Zahl der Förderschülerinnen und -schüler und spricht von einem „System, das Kinder mit Lernrückständen in sonderpädagogische Schubladen sortiert, statt ihre Lernbedingungen zu verbessern“.

„Die Probleme der Schulen werden zu Problemen der Kinder gemacht“

Schuhmann arbeitet besonders den Befund zur Sonderpädagogik heraus. Wörtlich heißt es bei ihr: „Von 2015 bis 2022 ist die Zahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den allgemeinbildenden Schulen im Ruhrgebiet um 24 Prozent angestiegen.“ Die Förderquote liege „mit 9,4 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt von 7,8 Prozent“. Besonders auffällig sei „der Anstieg im Förderschwerpunkt Lernen“, dessen Anteil inzwischen „4,39 Prozent der Schülerschaft“ betrage – und damit weit über dem Niveau von 2015 liege. Der Anteil der Kinder im Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ sei ebenfalls gestiegen, von 1,07 auf 1,3 Prozent.

Ihr bitteres Fazit: „Die Probleme der Schulen werden zu Problemen der Kinder gemacht.“ Kinder, die keine ausreichende Sprachförderung oder individuelle Unterstützung erhalten, würden zu „Fällen“ erklärt – und aus dem Regelschulsystem herausdefiniert. Schuhmann fordert einen radikalen Kurswechsel: mehr Personal, kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams – und vor allem den politischen Willen, „die soziale Spaltung des Bildungssystems zu durchbrechen“. Ohne diesen, warnt Schuhmann, drohe das Ruhrgebiet „zur bildungspolitischen Verliererregion Deutschlands“ zu werden.

Was das Armutsniveau betrifft, ist sie das schon längst. „Das Ruhrgebiet hat den größten Anteil von Eltern ohne beruflichen Abschluss, eine anhaltend hohe Langzeitarbeitslosigkeit und den höchsten Anteil an Sozialleistungsbeziehenden“, so heißt es im Bildungsbericht. Daraus resultiere „eine sehr hohe Kinderarmutsquote“. Diese konzentriere sich in den ehemaligen Arbeitervierteln – mit „eigenem negativen Einfluss auf die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen“.

Die Autorinnen und Autoren warnen: „Die kommunale Armut stellt eines der wesentlichsten Hemmnisse für die Entwicklung des Bildungssystems in der Region dar.“ Das Ruhrgebiet sei „die Metropolregion mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung“, was die Finanzierung von Ganztagsbetreuung, Sprachförderung und Schulsozialarbeit fast unmöglich mache.

Die politische Botschaft ist eindeutig, auch wenn sie im Bericht diplomatisch verpackt ist: „Die Gestaltung gerechter Bildungschancen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Übersetzt heißt das: NRW allein kann das nicht mehr stemmen. Der Bund müsste massiv investieren – ein „Aufbau West“ ist nach Jahrzehnten der Förderung Ostdeutschlands geboten. „Vor dem Hintergrund der herausfordernden gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen steht der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Innovationskraft sowie die wirtschaftliche Zukunft des Ruhrgebiets – und damit von NRW insgesamt – auf dem Spiel“, so heißt es im Bericht. Wie der aktuelle IQB-Bildungstrend aufzeigt: Es geht dabei sogar noch um mehr. Denn wenn ein Ballungsraum mit fünf Millionen Einwohnern bildungspolitisch kollabiert, zieht er ganz Deutschland mit hinab.

„Würden wir nach dem offiziellen Plan unterrichten, wäre es ein tägliches Scheitern“

Trotz all der widrigen Umstände, trotz Personalmangel, Überforderung und ständiger Krisen – das Kollegium der Nordmarkt-Grundschule kämpft weiter, mit den eigenen Mitteln. Schulleiterin Alma Tamborini hat längst aufgehört, an das zu glauben, was das Ministerium „Lehrplan“ nennt. „Würden wir nach dem offiziellen Plan unterrichten, wäre es ein tägliches Scheitern“, sagt sie. „Ein bisschen Lesen, ein bisschen Rechnen, ein sozialer Umgang miteinander – wenn die Kinder das am Ende der vierten Klasse können, dann war es ein erfolgreiches Jahr.“

Um mehr Zeit für genau das zu schaffen, haben Tamborini und ihr Kollegium kurzerhand beschlossen, ein fünftes Grundschuljahr einzuführen. „Wir haben das Schulgesetz prüfen lassen, und einen Paragrafen, der es verbietet, haben wir nicht gefunden“, erzählt sie. Ein Jahr mehr für Zähneputzen, für Leseübungen, für Bauernhofbesuche. Ein Jahr mehr, um den Kindern die Grundlagen beizubringen, die anderswo selbstverständlich sind – hier eine Überlebensfrage. News4teachers 

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Fräulein Rottenmeier
2 Stunden zuvor

„Um mehr Zeit für genau das zu schaffen, haben Tamborini und ihr Kollegium kurzerhand beschlossen, ein fünftes Grundschuljahr einzuführen. „Wir haben das Schulgesetz prüfen lassen, und einen Paragrafen, der es verbietet, haben wir nicht gefunden“, erzählt sie.“

Pfiffige Idee und wenn man die Resourcen hat, um einen weiteren Jahrgang aufzumachen, warum nicht. Ich nehme mal stark an, dass damit das dritte Jahr der Schuleingangsphase gemeint ist…..und wer wieder erwarten diese Phase nach zwei Jahren erfolgreich absolviert, wechselt eben in die dritte Klasse….funktioniert bei Sprachheilschulen ja auch (die haben ein zweijähriges erstes Schuljahr).

Man muss nur gut aufpassen, dass die Kinder an der GS nicht überaltern, denn die Schulpflicht endet sonst recht schnell auf der weiterführenden Schule….

potschemutschka
1 Stunde zuvor

Genau diese “Idee” hatte ich gerade für “Roma-Schulen” im anderen thread. Also ginge das ja doch und muss kein Traum bleiben. Cool!

dickebank
1 Stunde zuvor

Die Vollzeitschulpflicht. Die Schulpflicht endet am Ende des Schulkahres des 18. Geburtstag der Betreffenden.

ed840
2 Stunden zuvor

Kann ich so in dieser Schärfe nicht ganz nachvollziehen.
Bei den Schülerinnen ohne Migrationshintergrund würden nach meiner Zählung z.b. 5 Bundesländer niedrigere Punktwerte in Mathematik aufweisen als NRW, ebenso bei “mit Migrationshintergrund 2. Generation” , bei “mit Migrationshintergrund 1. Generation” dann sogar 7 Bundesländer.
Selbst in HH, das ja gerne als Leuchtturm gefeiert wird, lägen die Leistungen der Migranten ähnlich schlecht.

Die 1. Gen in NRW = 415 pkt. / HH 417 Pkt (Bund = 422),
die 2. Gen in NRW = 449 und damit sogar besser als in HH = 443 (Bund = 457 )

dickebank
1 Stunde zuvor
Antwortet  ed840

Die hohen Zahlen bei egal was, sorgen in NRW für entsprechende Mittelwerte. In die Durchschnittwerte gehen eben die Zahlen rund um den Pott mit in die Statistik ein.
Der klischeehafte Pott das ist die Gegend südlich der A2 und nördlich der A40 – also rechts und links vonne A42.

ed840
59 Minuten zuvor
Antwortet  dickebank

Niedersachsen weist z.B. bei allen Gruppen niedrigere Werte auf als NRW, in z.b. Hessen und Schleswig Holstein liegen die Werte bei “ohne Migrationshintergrund” nur wenig besser, bei den Schüler*innen mit Migrationshintergrund schlechter als in NRW.

Müsste man halt wissen, ob die Durchschnittswerte in diesen Bundesländern gleichmäßiger verteilt sind oder ob es auch dort bestimmte Brennpunkte mit besonders niedrigen Werten gibt.

Levski
1 Stunde zuvor

“Der wichtigste Grund für den Niedergang des Bildungsniveaus ist aber das, was die Studienautoren als „zuwanderungsbezogene Disparitäten“ bezeichnen. Die Wortwurzel „zuwander-“ kommt auf den 497 Seiten der Studie 536-mal vor. Man kann es nicht mehr bezweifeln: Die Zuwanderung und zwar vor allem aus Ländern mit deutlich schwächeren Bildungssystemen und – vermutlich noch wichtiger – von Menschen mit vergleichsweise geringem „kulturellem Kapital“ (wie es die IQB-Autoren nennen) ist der entscheidende Faktor.”

Quelle: Cicero