HANNOVER. Messerattacken an Schulen, angegriffene Lehrkräfte, verunsicherte Eltern – die Debatte über Jugendgewalt wird von schockierenden Einzelfällen bestimmt. Doch die Forschung zeichnet ein anderes, deutlich differenzierteres Bild: Eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zeigt, dass Jugendliche zwar häufiger Gewalt erleben – selbst aber nicht brutaler werden. Was die Daten wirklich aussagen – und warum Susann Prätor von der Polizeiakademie Niedersachsen mahnt, nicht vorschnell auf gesellschaftliche Verrohung zu schließen.

Es war ein Angriff, der selbst erfahrene Ermittler fassungslos machte: An einem Berufskolleg in Essen stach ein 17-jähriger Schüler mehrfach mit einem Messer auf seine Lehrerin ein und verletzte sie schwer. Anschließend attackierte der Jugendliche auf offener Straße einen Obdachlosen, bevor die Polizei ihn durch Schüsse stoppte. Mittlerweile ermittelt die Bundesanwaltschaft – auch wegen des Verdachts auf ein terroristisches Motiv. Der Fall, der bundesweit Entsetzen ausgelöst hat, steht exemplarisch für das, was viele als Beleg einer zunehmenden Verrohung junger Menschen deuten: Jugendgewalt scheint brutaler, unberechenbarer, unverständlicher geworden zu sein.
Doch die Wissenschaft zeichnet ein deutlich differenzierteres Bild. Während spektakuläre Einzelfälle wie der von Essen die öffentliche Wahrnehmung prägen, zeigen aktuelle Studien: Die Gewalt unter Jugendlichen ist in der Breite nicht brutaler geworden. Zu diesem Schluss kommt die Soziologin Susann Prätor, Professorin an der Polizeiakademie Niedersachsen. Sie forscht seit Jahren zur Kinder- und Jugendkriminalität und wertet dafür sowohl polizeiliche Statistiken (den sogenannten Hellbereich) als auch empirische Befragungen (den Dunkelbereich) aus.
In einem Vortrag in Berlin erklärte sie laut Deutschlandfunk Nova bereits im März: „Es gibt keine Hinweise dafür, dass Jugendgewalt brutaler wird.“ Diese Einschätzung, die angesichts jüngerer Vorfälle zunächst für Erstaunen sorgte, findet nun wissenschaftliche Bestätigung in der neuen Ausgabe des Niedersachsensurveys, der größten und renommiertesten Langzeitstudie zur Jugendkriminalität in Deutschland. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat dafür 2024 mehr als 9.200 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler befragt – die Ergebnisse liegen dem Spiegel exklusiv vor.
Mehr Jugendliche werden Opfer von Gewalt – aber was sagen die Zahlen über Täter aus?
Die Studie zeigt zunächst: Gewalt unter Jugendlichen ist nach wie vor ein reales Problem – und sie betrifft zunehmend auch junge Menschen als Opfer. 20 Prozent der Befragten berichteten, im vergangenen Jahr Gewalt erlebt zu haben, deutlich mehr als 2015 (15 Prozent). Besonders häufig ging es um Körperverletzung, sexuelle Belästigung, Raub oder Erpressung. Auffällig ist: Mädchen berichten deutlich häufiger von sexuellen Übergriffen, Jungen häufiger von körperlicher Gewalt und Raub.
Doch auf der Täterseite zeigt sich ein anderes Bild: Nur rund sechs Prozent der Jugendlichen gaben an, im selben Zeitraum selbst ein Gewaltdelikt begangen zu haben – ein Anteil, der seit Jahren stabil ist und sogar unter dem Wert von 2019 liegt. Das bedeutet: Die Zahl der Jugendlichen, die überhaupt gewalttätig werden, nimmt nicht zu.
Zugleich weisen die Forschenden darauf hin, dass sich die Delikte stärker auf eine kleinere Gruppe konzentrieren. Es gibt also mehr sogenannte Mehrfachtäter – Jugendliche, die in einem Jahr mehrere Gewalttaten begehen. Diese Entwicklung kann den Eindruck einer steigenden Gewaltbereitschaft erzeugen, obwohl sich die Gesamtheit der jugendlichen Täterinnen und Täter nicht vergrößert. Der Anstieg an Gewalterfahrungen erklärt sich demnach weniger durch eine generelle Verrohung, sondern durch einzelne Jugendliche, die wiederholt auffallen.
Die Forschenden haben laut Spiegel mehrere Hypothesen, wie sich der scheinbare Widerspruch zwischen mehr Opfern und gleichbleibender Täterzahl erklären lässt: Zum einen könnten Gruppendelikte zugenommen haben, sodass auf eine Tat mehrere Opfer kommen. Zum anderen ist es denkbar, dass die Sensibilität gegenüber Gewalt gestiegen ist – etwa durch gesellschaftliche Debatten wie #MeToo. Handlungen, die früher bagatellisiert wurden, werden heute häufiger als Grenzüberschreitungen erkannt und benannt.
Wird die Jugend tatsächlich brutaler – oder nehmen wir Gewalt nur anders wahr?
Für die These einer zunehmenden Brutalisierung finden die Forscher keine Anhaltspunkte. Zwar gaben 15 Prozent der Jugendlichen an, bei der zuletzt erlebten Tat Verletzungen erlitten zu haben, die ärztlich behandelt werden mussten. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein deutlicher Anstieg gegenüber 2019, als nur 7,9 Prozent solche Verletzungen meldeten. Doch die Forscher weisen darauf hin, dass dieser Wert in früheren Erhebungen – etwa 2013 und 2015 – ähnlich hoch lag. Über die Zeit betrachtet ergibt sich also kein klarer Aufwärtstrend, sondern eine wellenförmige Entwicklung.
Hinzu kommt ein weiterer Befund: Die Zahl der von Schulen gemeldeten sogenannten „Raufunfälle“ – also körperlicher Auseinandersetzungen, bei denen Schülerinnen und Schüler verletzt wurden – ist in den vergangenen Jahren rückläufig. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass Gewalthandlungen an Schulen nicht häufiger und auch nicht gefährlicher geworden sind. Zusammengenommen sprechen beide Indikatoren gegen die Annahme, dass die Gewalt unter Jugendlichen brutaler wird. Vielmehr schwankt das Ausmaß körperlicher Auseinandersetzungen über die Jahre – ohne einen langfristigen Trend zu steigender Härte.
Auch beim Thema Messer widerspricht der Niedersachsensurvey der öffentlichen Wahrnehmung. In der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die Zahl der Taten mit Messern zwar gestiegen, doch der Anteil solcher Delikte an allen Gewalttaten blieb konstant. Im Survey selbst ist der Anteil der Jugendlichen, die angaben, bei einer Tat eine Waffe eingesetzt zu haben, seit 2013 nahezu unverändert. Seit 2017 führen Jugendliche zwar etwas häufiger Waffen mit sich – dieser Wert stagniert aber seit Jahren, und der Anteil derjenigen, die Messer mitnehmen, ist sogar leicht gesunken.
Die Forscherinnen und Forscher sehen daher keinen empirischen Beleg für eine „neue Qualität“ der Gewalt. Stattdessen zeigen ihre Daten, dass Gewaltphänomene in der Jugend zwar sichtbar bleiben, aber keine Eskalation in ihrer Schwere aufweisen.
Wie arbeitet die Wissenschaft – und warum unterscheidet sie sich von der Polizei?
Was den Niedersachsensurvey besonders macht, ist die Methodik. Für die Untersuchung befragte das KFN Tausende Jugendliche direkt – anonym und unabhängig vom Strafverfolgungssystem. Die Befragten schilderten ihre Erfahrungen als Opfer und Täter, unabhängig davon, ob ein Vorfall bei der Polizei bekannt wurde. Damit erfasst die Studie auch den sogenannten Dunkelbereich – also jenen Teil der Kriminalität, der in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht auftaucht.
„Wenn wir nur auf die Polizeizahlen schauen, sehen wir immer nur den Teil, der angezeigt und verfolgt wird“, erklärte Susann Prätor. „Aber viele Vorfälle werden gar nicht gemeldet – aus Scham, Angst oder weil sie in der Familie oder im Freundeskreis stattfinden.“ Erst durch die Kombination von Hell- und Dunkelfeldanalysen lasse sich die tatsächliche Entwicklung von Jugendgewalt beurteilen.
Der Niedersachsensurvey ist dabei einzigartig, weil er seit mehr als einem Jahrzehnt kontinuierlich Daten erhebt und damit Trends sichtbar macht, die über kurzfristige Schwankungen hinausgehen. Die anonymen Befragungen, durchgeführt in Schulen unter wissenschaftlicher Aufsicht, gelten als repräsentativ für die neunten Klassen im Land.
Warum steigen dann die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik?
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die im April veröffentlicht wurde, scheint ein anderes Bild zu zeichnen. Sie weist für 2024 erneut Höchststände bei tatverdächtigen Kindern und Jugendlichen aus: 13.755 Kinder und 31.383 Jugendliche wurden registriert – ein Anstieg um 11,3 beziehungsweise 3,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit liegt die Zahl junger Tatverdächtiger auf dem höchsten Niveau seit über einem Jahrzehnt.
Das Bundeskriminalamt sprach im Frühjahr von einem „Mehr-als-nur-Nach-Corona-Effekt“. Ursachen seien psychische Belastungen, Zukunftssorgen, häusliche Gewalt oder gesellschaftliche Krisen. Das Bundesinnenministerium mahnte allerdings zur Vorsicht bei der Interpretation der Daten: Die PKS sei kein exaktes Abbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern eine Annäherung. Anzeigeverhalten, Kontrollintensität, Erfassungsweisen oder gesetzliche Änderungen könnten die Zahlen erheblich beeinflussen.
Wie erleben Lehrkräfte die Entwicklung an Schulen?
Und was ist mit der Wahrnehmung an den Schulen? Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) vom Frühjahr 2024 berichteten 60 Prozent der Schulleitungen, dass körperliche und psychische Gewalt an ihren Schulen in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. In 97 Prozent der Fälle gingen die Übergriffe von Schülerinnen und Schülern aus.
„Gewalttaten gegen Lehrkräfte sind keine Einzelfälle“, sagte VBE-Bundeschef Gerhard Brand. „Das soziale Klima ist in den letzten Jahren spürbar rauer geworden. Der Respekt gegenüber schulischen Autoritäten nimmt ab, Konflikte eskalieren schneller.“ Brand kritisierte, dass die Politik das Thema bislang nicht ernsthaft systematisch erfasst habe. Lehrkräfte würden mit Bedrohungen, Beschimpfungen und Übergriffen zu oft allein gelassen.
Was folgt daraus?
Ja, sagte Professorin Prätor im März, die Daten zeigen, dass Jugendgewalt in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen hat und dass jugendliche Gewalttäter oft jünger sind, als sie es früher waren. Aus den Daten lasse sich aber nicht ablesen, dass Jugendgewalt brutaler geworden ist. Wichtig auch: „Die Anstiege der Gewaltkriminalität in den letzten Jahren finden sich für deutsche und nichtdeutsche Jugendliche gleichermaßen.“ Herkunft, betont sie, spiele keine Rolle, wenn man Jugendliche unter gleichen Lebensbedingungen vergleiche. Entscheidend seien soziale und emotionale Faktoren, nicht kulturelle Zuschreibungen.
„Es gibt überhaupt keine Unterschiede im Gewaltverhalten, wenn ich einen fairen Vergleich mache, nämlich Menschen unter gleichen Lebensbedingungen vergleiche“, sagte Prätor. Sie betonte, dass die meisten jugendlichen Täter keine Schwerverbrecher seien, sondern in instabilen Lebenslagen agierten – häufig impulsiv, emotional überfordert, manchmal ohne familiäre Rückbindung. Die Soziologin: „Das Androhen von Strafe wirkt bei Kindern kaum, weil sie oft spontan und ohne Planung handeln.“
Für sie ist klar: Wer Jugendgewalt verstehen will, muss die Lebensrealitäten junger Menschen betrachten – ihre psychischen Belastungen, Zukunftsängste, familiären Konflikte und sozialen Milieus. Härtere Gesetze oder Symbolpolitik, sagt sie, helfen nicht. „Wir müssen die Lebensumstände von Jugendlichen verbessern.“ News4teachers