COTTBUS. Ein Brandbrief aus der Elternschaft einer Grundschule in Cottbus setzt Politik und Verwaltung unter Druck: Eltern schildern massive Gewalt, Angst und Überforderung an der Schule – und erklären, dass ihre Kinder nicht mehr geschützt seien. Der Hilferuf blieb nicht folgenlos. Stadt und Landespolitik reagierten öffentlich, kündigten härteres Vorgehen bis hin zum Ausschluss einzelner Kinder aus dem Regelbetrieb an und räumten zugleich ein, dass die Schule seit Jahren unter extrem schwierigen Bedingungen arbeitet.
Eltern der Regine-Hildebrand-Grundschule (RHG) in Cottbus schicken ihre Kinder inzwischen mit Angst zur Schule. Die Situation an der Schule habe sich in den vergangenen Monaten so zugespitzt, dass die Grundschule „ihren gesetzlichen Auftrag, Kinder psychisch und physisch zu schützen und Bildung in einem angemessenen Rahmen zu ermöglichen, ohne eine deutlich stärkere Unterstützung des Schulträgers nicht mehr erfüllen kann“, so schreibt eine Sprecherin im Namen der gesamten Elternschaft in einem Brandbrief an Politik und Verwaltung.
Die Eltern schildern eindrücklich, wie sich diese Zuspitzung im Alltag ihrer Kinder zeigt. „Viele unserer Kinder gehen inzwischen mit großer Angst und typischen Symptomen wie Bauchschmerzen in die Schule, erzählen von Angst vor bestimmten Wegen, vor einzelnen Gruppen von Mitschülern und davor, etwas zu sagen und dafür bestraft zu werden.“ Immer mehr Kinder wollten nicht mehr allein zur Schule gehen oder den Heimweg antreten. „Einige Eltern melden ihre Kinder aus Angst sogar vom Hort ab oder die Kinder verweigern eine Hortbetreuung.“
Und weiter: „Als Eltern stehen wir morgens an der Tür, sehen die Unsicherheit in den Augen unserer Kinder und sollen ihnen gleichzeitig vermitteln, dass Schule ein sicherer Ort ist. Im Moment können wir dieses Versprechen nicht mehr guten Gewissens geben.“
Die Absenderin schreibt, sie sei seit über fünf Jahren Elternsprecherin an der Schule. „In dieser Zeit habe ich viele Herausforderungen erlebt, aber noch nie eine Situation, in der so deutlich wird, dass Schule mit ihren eigenen Mitteln an Grenzen stößt, die sie ohne politische Entscheidungen nicht überwinden kann.“
Die Eltern liefern zugleich eine nüchterne Beschreibung der Schule. Die Regine-Hildebrand-Grundschule ist demnach eine große Grundschule im Stadtteil Sachsendorf mit rund 464 Schülerinnen und Schülern. „Nach der aktuellen schulischen Auswertung besitzen über 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund und über 38 Prozent haben keine deutsche Staatsangehörigkeit.“ Rund 200 Kinder wüchsen in Familien mit Migrationsgeschichte auf, etwa 180 hätten keinen deutschen Pass. Diese Vielfalt könne eine Chance sein, schreiben die Eltern – „wenn die Rahmenbedingungen stimmen“. In der aktuellen Lage führe sie jedoch „zu einer Überforderung der vorhandenen Strukturen“.
„Ein Kind wurde derart heftig angegriffen, dass Rippenprellungen und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert wurden“
Die Eltern betonen, es gehe nicht um Einzelfälle, sondern um eine Entwicklung, die sich über Monate verfestigt habe. Unter anderem berichten sie: „Ein Kind wurde derart heftig angegriffen, dass Rippenprellungen und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert wurden.“ Weiter heißt es: „Es wurde Reizgas versprüht. Mehrere Kinder hatten gesundheitliche Beschwerden und mussten teilweise medizinisch betreut werden, die Polizei wurde eingeschaltet.“ Auch von wiederholten Schlägen, Tritten und Stürzen ist die Rede, „deren Folgen ärztlich behandelt werden mussten“. Kinder würden bedroht mit Aussagen wie: „Wenn du etwas sagst, bekommst du Schläge.“
Besonders belastend sei, dass Gewalt teilweise gezielt fortgesetzt werde. „Freunde bereits suspendierter Kinder haben gezielt andere Kinder angegriffen. Angriffe auf Kinder werden also zum Teil als Reaktion auf schulische Maßnahmen und elterliche Interventionen verlagert.“ Kinder berichteten zudem „von Erpressungen und massiven Beleidigungen, die weit über das hinausgehen, was man unter kindlichen ‚Rangeleien‘ verstehen könnte“. Ein Satz fasst die Erfahrung vieler Eltern zusammen: „Zivilcourage wird mit Androhung und Durchführung von Gewalt bestraft.“
Hinter jedem dieser Punkte stehe ein Kind, schreiben die Eltern, „mit Schmerzen, Angst und oft auch Scham“. Viele Familien hörten abends Sätze wie: „Ich will da nicht mehr hin“ oder „Bitte lass mich morgen krank sein“. Die klare Einordnung folgt unmittelbar: „Das ist kein normales Grundschulleben mehr.“
Ein erheblicher Teil der Unterrichtszeit werde nicht mehr für den eigentlichen Bildungsauftrag genutzt, sondern für Deeskalation, Gespräche, Krisenbewältigung und die Stabilisierung verängstigter Kinder. Die Eltern betonen ausdrücklich, dass diese Arbeit pädagogisch notwendig sei und dass sie das Engagement der Lehrkräfte wertschätzen. Gleichzeitig habe dies zur Folge, „dass der Unterrichtsstoff nicht vollständig vermittelt werden kann“. Lernzeit gehe verloren, Lernlücken wüchsen – besonders bei Kindern, die ohnehin benachteiligt seien. „In der Summe bedeutet dies: Die RHG kämpft nicht nur mit Gewaltvorfällen, sondern auch mit einer schleichenden Aushöhlung ihres Bildungsauftrags.“
Viele Kinder sprächen bei Schuleintritt kaum oder gar kein Deutsch. Das führe zu Missverständnissen, Konflikten, unklaren Regeln und erschwerter Elternarbeit. Die Eltern schildern zudem kulturelle Herausforderungen, darunter autoritäre Rollenbilder und die Legitimierung körperlicher Konfliktlösung in einzelnen Familien. Die Schule versuche, dem pädagogisch zu begegnen, stoße dabei aber an Grenzen. „Ohne Verstärkung aus Schulträger, Schulamt und Landesebene kann sie diese tief verwurzelten Muster allein nicht verändern.“
Zugleich machen die Eltern deutlich, dass die Schule bereits gehandelt habe: mit Schulsozialarbeit, Zusammenarbeit mit Polizei und Jugendamt, Ordnungsmaßnahmen, einem Gewaltpräventionskonzept und dem Einsatz eines Sicherheitsdienstes. Kurzzeitig habe dies zu einer leichten Entspannung geführt. „Viele Kinder haben uns Eltern erzählt, dass ihnen allein die sichtbare Präsenz von Sicherheitskräften geholfen hat, sich nicht mehr ganz so ausgeliefert zu fühlen.“ Nachhaltig sei dieser Effekt jedoch nicht gewesen. „Nach wenigen Wochen verpuffte die Wirkung nahezu vollständig, und es kam erneut zu einer Häufung schwerwiegender Vorfälle.“
„Unsere Kinder haben nur diese eine Grundschulzeit. Sie ist kurz und prägt ein ganzes Leben“
Die Eltern fordern konkrete Beschlüsse, klare Verantwortlichkeiten, verbindliche Zeitpläne und überprüfbare Umsetzung. „Wir haben keine Kraft mehr für Ankündigungspolitik oder Beschwichtigungen.“ Während Protokolle gelesen und Pressemitteilungen gehört würden, erlebten die Kinder auf dem Schulhof „etwas ganz anderes“. Der Schlusssatz richtet den Blick auf das Wesentliche: „Unsere Kinder haben nur diese eine Grundschulzeit. Sie ist kurz und prägt ein ganzes Leben.“
Der Elternbrief blieb nicht ohne Reaktion. Die Stadt Cottbus kündigte an, stärker gegen steigende Gewalt vorzugehen – bis hin zum Ausschluss gewalttätiger Kinder aus dem Regelbetrieb. Oberbürgermeister Tobias Schick sagte im RBB-Fernsehen: „Fakt ist, dass es immer wieder Schülerinnen und Schüler gibt, insbesondere eine kleine Gruppe von Schülern, die sich nicht an Regeln hält und Konflikte immer versucht, mit Gewalt zu lösen.“ Man müsse einen Weg finden, „dass diese Schülerinnen und Schüler nicht mehr in dem Regelbetrieb und an dieser Schule unterrichtet werden“.
Auch Bildungsminister Steffen Freiberg äußerte sich. Er sei bereits mit der Schulleitung in Kontakt gewesen, sagte er dem RBB. „Wir wissen, dass es an wenigen Individuen hängt, an einzelnen Personen, die sozusagen in ihren Gruppen dort für Unruhe sorgen.“ Er hoffe sehr, „dass es bald gelingt, dort Ruhe reinzubringen“. Die Schule sei über viele Jahre hinweg „in schwierigem Umfeld sehr engagiert unterwegs“.
Schon im Sommer hatte die Stadt Cottbus auf eskalierende Gewalt reagiert und unter anderem einen Sicherheitsdienst an Schulen angekündigt. Oberbürgermeister Schick forderte damals auch eine Quote, um zu verhindern, dass zu viele Schülerinnen und Schüler ohne ausreichende Deutschkenntnisse an einzelnen Schulen konzentriert werden. News4teachers / mit Material der dpa
Brandbrief-Schule: Lehrkraft schildert Zustände im Unterricht (“unverletzt rauskommen”)
