GÜTERSLOH. Unangemessenes Verhalten von Beschäftigten gegenüber Kindern wird in Kitas offenbar deutlich häufiger beobachtet, als es in der öffentlichen Debatte oft angenommen wird. Eine große Befragung der Justus-Liebig-Universität Gießen in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung zeigt: Mehr als ein Viertel der befragten Fach- und Leitungskräfte erlebt regelmäßig Situationen, in denen sie den Impuls haben, zum Schutz eines Kindes einzugreifen. Die Studie verweist zugleich auf das Arbeitsklima in den Teams als zentralen Einflussfaktor: Wo Kommunikation, Feedback und gemeinsame Maßstäbe fehlen, treten solche Situationen häufiger auf.

Grundlage der Untersuchung ist eine Online-Befragung von mehr als 21.000 pädagogischen Fach- und Leitungskräften aus Kitas. Wichtig für die Einordnung: Die Studie legt nicht fest, was im Einzelnen als „unangemessenes“ oder „verletzendes“ Verhalten gilt. Erfasst wurde vielmehr, wie häufig Beschäftigte Interaktionen zwischen Kolleginnen und Kollegen und Kindern beobachten, „in denen sie den Impuls haben, einzugreifen, um das Kind emotional oder körperlich zu schützen – und zwar unabhängig davon, ob sie auch tatsächlich eingreifen oder nicht“. Die Autorinnen und Autoren machen damit bewusst keine objektive Grenzziehung, sondern greifen auf die subjektive Wahrnehmung der Beschäftigten zurück.
Aufgrund der gewählten Fragestellung müsse davon ausgegangen werden, „dass das tatsächliche Auftreten von Fehlverhalten gegenüber Kindern systematisch unterschätzt wird“. Erfasst würden nur Situationen, die als so gravierend wahrgenommen werden, dass ein Schutzimpuls ausgelöst werde. Nicht jede problematische Interaktion werde so eingeschätzt; hinzu kämen Abstumpfung, Resignation oder unbeobachtete Situationen. Insgesamt sei daher von „einer nicht quantifizierbaren Dunkelziffer“ auszugehen.
Die Zahlen zeigen in jedem Fall, dass solche Situationen für viele Fachkräfte zum Alltag gehören. Mehr als ein Viertel der Befragten gibt an, an den meisten Tagen, fast täglich oder sogar ständig Interaktionen zu beobachten, in denen aus ihrer Sicht ein Einschreiten notwendig wäre, um Kinder emotional oder körperlich zu schützen. Rund ein weiteres Drittel berichtet, an eher wenigen Tagen entsprechende Situationen mitzuerleben. Nur 40,2 Prozent geben an, in ihrer Einrichtung nie oder fast nie solche Beobachtungen zu machen.
„Jeder Vorfall, bei dem das Wohl eines Kita-Kindes mutmaßlich nicht gewährleistet ist, ist einer zu viel“
Diese Beobachtungen gehen mit einer hohen emotionalen Belastung einher. 69 Prozent der befragten Fach- und Leitungskräfte fühlten sich stark oder eher stark belastet, wenn sie Situationen beobachten, „in denen Kinder geschützt werden müssten“. Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung, formuliert das deutlich: „Jeder Vorfall, bei dem das Wohl eines Kita-Kindes mutmaßlich nicht gewährleistet ist, ist einer zu viel. Das treibt nicht nur Eltern um, sondern auch die Fachkräfte selbst. Die allermeisten von ihnen haben hohe Ansprüche an die eigene Arbeit und wünschen sich, bei diesem sensiblen Thema nicht allein gelassen zu werden. Entscheidend ist daher das Vertrauen und Zusammenspiel innerhalb des gesamten Kita-Teams.“
Genau dieses Zusammenspiel gerät in vielen Einrichtungen jedoch unter Druck. Ein zentraler Befund der Studie lautet, dass es in fast allen Kitas keinen gemeinsamen Maßstab dafür gibt, was als angemessener Umgang mit Kindern gilt. Lediglich sechs Prozent der Befragten verneinen, dass es im Team unterschiedliche Auffassungen dazu gibt. Mehr als ein Drittel fühlt sich davon stark oder sehr stark belastet. Im Ergebnisteil heißt es dazu unmissverständlich, dass „in fast allen KiTa-Teams Uneinigkeit darüber besteht, was ein angemessener Umgang mit Kindern bedeutet“. Diese Uneinigkeit sei nicht nur ein theoretisches Problem, sondern fördere Belastung und die Beobachtung von Fehlverhalten.
Die Studie zeigt zudem, dass Unsicherheit und Teamdynamiken konkret dazu führen, dass Fachkräfte nicht einschreiten – selbst dann, wenn sie den Impuls dazu verspüren. Der häufigste genannte Grund ist „die Unsicherheit, die beobachtete Situation richtig einzuschätzen“. Mehr als die Hälfte der Fachkräfte nennt diesen Punkt. Hinzu kommt die „Scheu vor Konflikten mit dem Team und/oder der Leitung“. Rund ein Drittel gibt an, aus der Erfahrung heraus oder aus der Befürchtung, „damit nicht ernstgenommen zu werden“, nicht eingegriffen zu haben.
Auch Angst vor Ausgrenzung spielt eine Rolle. Etwa ein Viertel der Befragten berichtet, aus Angst vor Mobbing oder sozialer Isolation im Team nicht eingeschritten zu sein. Ein Fünftel nennt Loyalitätskonflikte gegenüber Kolleginnen und Kollegen. Die Studie macht deutlich, dass diese sozialen Dynamiken ebenso hemmend wirken wie strukturelle Faktoren – etwa Zeitmangel oder die Sorge, ein Eingreifen könne den Personalmangel verschärfen.
„Eine ausreichende Personalausstattung ist eine notwendige Bedingung für kindgerechte Arbeit in der Kita“
Die Teamarbeit selbst bewerten viele Befragte kritisch. Knapp ein Viertel stimmt der Aussage nicht zu, dass die Kommunikation im Team durch Wertschätzung, Respekt und Toleranz geprägt ist. Nur gut ein Viertel stimmt dem voll zu. Beim Thema Feedback zeigt sich ein ähnliches Bild: Fast die Hälfte der Befragten gibt an, nicht regelmäßig Rückmeldungen zu ihrem pädagogischen Handeln zu erhalten – weder zu gelungenen Interaktionen noch zu problematischem Verhalten. Die Studie ordnet die Defizite klar ein. Teamarbeit könne präventiv wirken, um Fehlverhalten gegenüber Kindern zu reduzieren – allerdings nur dann, wenn sie tatsächlich funktional sei. Wertschätzende Kommunikation, regelmäßiges Feedback und eine Leitung, die Anliegen ernst nimmt, seien zentrale Schutzfaktoren. In vielen Einrichtungen seien diese jedoch „unzureichend ausgeprägt“.
Auch beim Thema Personalausstattung warnt die Studie vor Verkürzungen. Zwar funktionierten gut besetzte Teams tendenziell besser. Gleichzeitig betonen die Autorinnen und Autoren, dass eine ausreichende Personalausstattung „eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung“ für kindgerechte Arbeit sei. Kathrin Bock-Famulla, Expertin der Bertelsmann Stiftung, formuliert es so: „Eine ausreichende Personalausstattung ist eine notwendige Bedingung für kindgerechte Arbeit in der Kita. Aber, das zeigen unsere Daten: Sie kann Schutz und Wohlbefinden von Kindern nur fördern, wenn sie auch zu einer Verbesserung der Teamarbeit beiträgt.“
Zu den Befunden haben sich die Kita-Fachkräfteverbände mit einer gemeinsamen Stellungnahme zu Wort gemeldet. Sie schreiben, die Beschäftigten in den Einrichtungen engagierten sich „für kindgerechte Kita-Rahmenbedingungen nach fachlichen Vorgaben“, sie selbst erlebten aber zugleich täglich, „wie herausfordernd es im Kita-Alltag sein kann, Kinder und Fachkräfte vor prekären Betreuungsbedingungen und Überforderung zu schützen“.
Zwar müsse jede Kita eine pädagogische Konzeption und ein institutionelles Schutzkonzept vorweisen, doch „reißen Berichte nicht ab und zeigen Studien auf, dass verletzendes Verhalten in Kitas ein schmerzliches Thema ist, mit dem sich Fachkräfte, Träger und Politik auseinandersetzen müssen“. Die Verbände fordern daher: „Wir fordern alle Kita-Akteure auf, das Kindeswohl im Sinne einer qualitativ guten Bildung, Erziehung und Betreuung konsequent an die erste Stelle zu setzen.“
Dabei wird Kinderschutz ausdrücklich als aktiver Prozess verstanden. „Konsequenter Kinderschutz im Kita-Alltag bedeutet, dass Fehlverhalten gegenüber Kindern nicht relativiert oder unter den Teppich gekehrt, sondern benannt und angesprochen wird sowie zu entsprechenden Konsequenzen führt“, heißt es in der Stellungnahme. Zugleich betonen die Verbände, dass Schutz nur gelingen könne, wenn Kinder „den ganzen Tag über vertraute Bezugserzieher*innen zur Verfügung“ haben – „sei es in Kern- oder Randzeiten“.
Auch strukturelle Voraussetzungen werden benannt. Kinderschutz bedeute ebenso, „jedem Kind mit einer pädagogisch gut gestalteten Eingewöhnung die Zeit zu gewähren, die es braucht, um im Kita-Alltag gut anzukommen“. Gruppengrößen und räumliche Bedingungen müssten den fachlichen Vorgaben für gute Kita-Qualität entsprechen.
Konkret fordern die Verbände Personalschlüssel, „die Raum für genügend Zuwendung, Assistenz und intensive frühpädagogische Arbeit bieten“ und zugleich „Urlaub-, Krankheits- und Fortbildungstage berücksichtigen“. Außerdem stellen sie klar: „Persönliche Eignung und eine fundierte Ausbildung sind Voraussetzung, um in Kitas zu arbeiten.“ Pädagogisches Personal müsse verpflichtet werden, sich regelmäßig fort- und weiterzubilden; die finanziellen Mittel dafür müssten bereitgestellt werden. Gefordert wird auch „ein ausreichendes und verbindliches Kontingent an mittelbarer Arbeitszeit“ für Besprechung, Organisation, Vor- und Nachbereitung sowie Reflexion der pädagogischen Arbeit – also genau jene Zeit, die laut Studie in vielen Teams fehlt.
„In Zeiten personeller Unterbesetzung sind die Aufsichtspflicht und das Wohlergehen der Kinder nicht verhandelbar“
Auch die Träger werden von den Verbänden in die Pflicht genommen. Diese sollten verpflichtet werden, sich selbst zu qualifizieren und „verpflichtend zu entwicklungspsychologischen Themen sowie Belangen des Kinderschutzes und der Kinderrechte geschult werden“. Und sie formulieren eine klare Grenze: „In Zeiten personeller Unterbesetzung sind die Aufsichtspflicht und das Wohlergehen der Kinder nicht verhandelbar.“ Prekäre Betreuungsverhältnisse dürften nicht akzeptiert werden – „auch wenn Betreuungszeiten gekürzt werden, um das Wohlergehen der Kinder zu gewährleisten“.
Am Ende bündeln die Verbände ihre Forderungen zu einem politischen Appell. Es reiche nicht aus, über Standards zu sprechen. Notwendig seien „angemessene Personalschlüssel, Zeit für Fachberatung und Reflexion sowie nachhaltige Investitionen in Ausbildung und Qualifizierung“. Ihr Fazit ist unmissverständlich: „Jeder Vorfall, der das Wohl eines Kindes gefährdet, ist einer zu viel.“ Ziel müsse es sein, verletzendes Verhalten nicht nur zu benennen, sondern durch klare Strukturen, verbindliche Standards und verlässliche Rahmenbedingungen wirksam zu verhindern. News4teachers
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.








