Immer mehr Fälle: Der Absturz von Jugendlichen beginnt häufig mit Schwänzen

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HALLE / SAALE. Tausende Kinder in Deutschland bleiben dem Unterricht fern, oft über Monate. Immer mehr Bundesländer melden steigende Fallzahlen von Schulabsentismus. Der ist häufig ein Symptom für eine aus dem Ruder laufende Entwicklung – hinein in Perspektivlosigkeit und Kriminalität. „Wer bei uns vor Gericht stand, hat in der Regel auch geschwänzt“, sagt ein Richter.

In da hood. (Symbolbild.) Illustration: Shutterstock

Er prahlte mit einer geraubten Gucci-Handtasche auf TikTok – und wurde damit zur Symbolfigur einer fehlgelaufenen Entwicklung: Der mittlerweile 16-jährige Abdul H. aus Halle galt als Schlüsselfigur der Jugendgewalt in der Stadt. Im Prozess klar: Er hatte fünf Jahre lang keine Schule besucht. Fünf Jahre, in denen weder Schule, Jugendamt, Ordnungsamt noch Polizei es schafften, ihn dauerhaft zurück in den Unterricht zu holen. Heute sitzt Abdul H. wegen einer ganzen Litanei von Straftaten für acht Jahre im Jugendgefängnis, wo er nun auch beschult wird.

Das Kopfschütteln über den Fall war groß. Offiziell wollte niemand von „Behördenversagen“ sprechen – und wen genau damit meinen? Die Verantwortung verteilt sich auf mehrere Stellen. Am Ende war’s niemand. Fakt ist: Die Schule in Halle-Neustadt habe ihre Pflicht erfüllt, betont das Landesschulamt. Dokumentation und Meldungen seien erfolgt, gemeinsam mit Ordnungsamt, Jugendamt und Polizei sei man aktiv geworden. Nur: Nachhaltig geholfen hat es nicht.

Der Fall Abdul H. ist extrem – aber er macht sichtbar, wie gravierend das Problem des Schulabsentismus in Deutschland inzwischen ist. Immer mehr Kinder und Jugendliche bleiben der Schule über längere Zeiträume fern. Die Gründe reichen von familiären Krisen über psychische Belastungen bis hin zu Sprachproblemen oder schlicht Überforderung. Die Folgen sind dramatisch: fehlende Lerninhalte, sozialer Ausschluss – und nicht selten ein Weg in die Kriminalität.

Schleswig-Holstein: Tausende Kinder mit massiven Fehlzeiten

Aktuelle Zahlen sind alarmierend. In Schleswig-Holstein, wo nun neue Daten veröffentlicht wurden, registrierte das Bildungsministerium im ersten Halbjahr 2024/2025 knapp 2.770 Schülerinnen und Schüler, die mehr als 40 Tage im Unterricht fehlten. Im Vergleich zum Vorjahr (2.259 Fälle) ist das ein deutlicher Anstieg. Damit sind mehrere tausend Kinder und Jugendliche faktisch fast komplett aus dem Schulsystem herausgefallen – in einem einzigen Bundesland.

Die Behörden unterscheiden drei Stufen: problematische Fehlzeiten (11–20 Tage pro Halbjahr), gravierende Fehlzeiten (21–40 Tage) und massive Fehlzeiten (über 40 Tage). Besonders betroffen sind die Berufsschulen, weit stärker als Gymnasien, Gemeinschaftsschulen oder Grundschulen.

Um dem entgegenzuwirken, setzt das Land auf eine umfassende Strategie gegen Schulabsentismus. Ein Baustein ist die SANSCHO-Studie (Schulbesuch und Schulabbruch in Schleswig-Holstein), die seit 2024 läuft. Beteiligt sind die Europa-Universität Flensburg und die Universität Leipzig. Bis Ende 2027 sollen Ursachen erforscht und wirksame Hilfen entwickelt werden. Erste Erkenntnisse: Häufig stecken psychische Belastungen, familiäre Krisen oder auch das Fehlen eines Zugehörigkeitsgefühls hinter dem Schwänzen.

Auch aus Mecklenburg-Vorpommern werden aktuelle Daten gemeldet – und steigende Fallzahlen. Für das zurückliegende Schuljahr 2024/2025 verzeichnet das Bildungsministerium an den allgemeinbildenden Schulen im Land 446 Fälle, «bei denen die staatlichen Schulämter ein Verfahren wegen Schulabsentismus geführt haben», teilte eine Sprecherin mit. Mit den Fällen an den beruflichen Schulen waren es insgesamt 506 Fälle. Das entspricht einem Anteil zur Gesamtschülerzahl von 0,29 Prozent. Im Schuljahr davor waren es an den allgemeinbildenden Schulen lediglich rund 372 Fälle, bei denen ein entsprechendes Verfahren geführt wurde. Mit den Fällen an beruflichen Schulen sind es insgesamt 411 Fälle gewesen (Anteil zur Gesamtschülerzahl: 0,24 Prozent). Eine weitere Aufschlüsselung nach Schularten wird laut Ministerium nicht erhoben.

NRW: Mehr Bußgelder für Schulverweigerer

In Nordrhein-Westfalen wächst ebenfalls der Druck. Wie der WDR berichtet, wurden dort im Jahr 2023 deutlich mehr Bußgelder gegen Eltern verhängt, deren Kinder nicht regelmäßig in die Schule gingen. Die Botschaft ist klar: Die Behörden wollen das Schwänzen nicht länger dulden. Bis zu 250 Euro können Eltern zahlen müssen, wenn ihre Kinder dauerhaft der Schule fernbleiben. Doch Bußgelder allein greifen zu kurz. In vielen Fällen handelt es sich um Jugendliche, die längst den Anschluss verloren haben, oder um Familien, die in schwierigen sozialen Lagen leben. Ohne begleitende Hilfen bleiben solche Sanktionen oft Symbolpolitik.

Halle: Strengere Regeln, mehr Kontrollen – und die Rolle der Schulen

Besonders sichtbar wird das Problem in Halle (Saale), wo Jugendgewalt und Schulabsentismus eng miteinander verknüpft sind. „Wer bei uns vor Gericht stand, hat in der Regel auch geschwänzt“, sagte Karsten Kolbig, Richter und Sprecher des Amtsgerichts Halle, gegenüber dem MDR bereits im Januar.

Als die Jugendkriminalität im Oktober 2023 einen Höhepunkt erreichte, reagierte die Politik mit einem Krisengipfel und dem Plan, Schulen müssen Fehlzeiten schneller und konsequenter melden. Mit dem neuen Runderlass zu Schulpflichtverletzungen, der seit Februar 2024 in Sachsen-Anhalt gilt, sind die Regeln klar: Wenn Schüler unentschuldigt fehlen und Eltern nicht reagieren, müssen Schulen innerhalb von zehn Unterrichtstagen das Ordnungsamt informieren – teils sogar früher. Das Landesschulamt überprüft, dass diese Pflicht eingehalten wird. Ein Sprecher räumte ein, dass Schulen in der Vergangenheit nicht immer schnell und konsequent genug reagierten.

Der Kurswechsel ist in Halle dem Bericht zufolge spürbar: 2024 meldeten die Schulen der Stadt bis Ende September bereits 245 Fälle von Schulabstinenz – mehr als in den gesamten Vorjahren (220 Meldungen jeweils 2022 und 2023). 48 Kinder und Jugendliche wurden von Polizei oder Ordnungsamt in die Schule gebracht. Und in 57 Fällen verhängte das Gericht Jugendarrest wegen Schulabsentismus. Manche Jugendliche merkten in diesem Arrest zum ersten Mal, wie es ist, wenn sich jemand kümmere, heißt es beim Justizministerium.

Doch Zahlen allein erzählen nicht die ganze Geschichte. Schulen in Halle sind längst nicht nur Meldeinstanz, sondern zentrale Akteure im Kampf gegen das Schwänzen. Sie dokumentieren, sie informieren, sie versuchen gemeinsam mit Jugendamt und Polizei Lösungen zu finden. Unterstützt werden sie durch 75 Vollzeitstellen für Schulsozialarbeit an 48 Schulen. Hinzu kommen neun Projekte freier Träger, die von der Jugendhilfe gefördert werden und sich um die Reintegration von Schulverweigerern kümmern. Dennoch bleibt die Lage angespannt – zumal in der städtischen Ordnungsbehörde nur ein einziger Mitarbeiter alle Fälle von Schulabstinenz bearbeitet.

Besonders groß ist die Herausforderung bei schulpflichtigen Migranten – wie Abdul H.. Ihr Anteil am Schwänzen sei „durchaus als überdurchschnittlich beschrieben“, so der Landesschulamtssprecher. Gründe: mangelnde Deutschkenntnisse, prekäre Lebensverhältnisse, fehlende Bindung an das Schulsystem. News4teachers / mit Material der dpa

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Karl Heinz
4 Stunden zuvor

Fünf Jahre, in denen weder Schule, Jugendamt, Ordnungsamt noch Polizei es schafften, ihn dauerhaft zurück in den Unterricht zu holen.”

Wenn ich das mit meine Erfahrungen abgleichen darf, dann müsste der Satz richtig lauten:
“Fünf Jahre, in denen weder Schule, Jugendamt, Ordnungsamt noch Polizei es VERSUCHTEN, ihn dauerhaft zurück in den Unterricht zu holen.”

Um es mal klar und deutlich zu schreiben:
Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist ein schlechter Witz.
Nicht zuständig.
Kein Personal.
Kein Härtefall – keine Priorität.
Bußgelder, die nicht bezahlt werden, weil man nun mal kein Geld hat.
Eltern, die einen nach Strich und Faden belügen.

Hinzu kommen neun Projekte freier Träger…”
na klar
originär staatliche Aufgaben werden zum Geschäftsmodell für Jobholder, die sich mit Fördergeldern über Wasser halten…
Das ist doch Versagen in Reinkultur.

AvL
2 Stunden zuvor
Antwortet  Karl Heinz

Sie haben die Eltern als erste Ansprechpartner für auffälliges Verhalten vergessen zu erwähnen.

Rüdiger Vehrenkamp
3 Stunden zuvor

Mir fehlt in der Aufzählung der Gründe für Schulabstinenz der mangelnde Elternwille, die falsche Einstellung zu Bildung, Übermüdung und chronische Unlust, weil man nachts lieber am Handy chillt oder Fortnite zockt. Der Mensch strebt grundsätzlich nach Lustgewinn. Schule kann, soll und muss aber natürlich auch fordern. Da haben einige Kinder schlicht und ergreifend keinen Bock drauf.

Vorgestern lasen wir hier außerdem noch einen Artikel über bildungsferne Familien aus osteuropäischen Staaten, deren Kinder natürlich auch in diese Statistik mit reinzählen, wenn die Familie sich von heute auf morgen in die Heimat verabschiedet.

Unsere Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ist eng, aber teils auch ernüchternd. Viel zu wenige Mitarbeiter müssen viel zu viele Fälle bearbeiten und haben für Schulabstinenzler im Grunde gar keine Zeit mehr, da es tatsächlich wichtigere Fälle gibt. Bußgelder werden meist gar nicht mehr verhängt, da viele Familien mit solchen Fällen ohnehin Bürgergeld beziehen und das Geld gar nicht eingetrieben werden kann.

Das System müsste hier jedoch viel rigoroser auftreten, gerade gegenüber solchen Jugendlichen. Man versucht hier ganz viel mit “Bitte” und speziellen Angeboten (was Mitschüler dann als unfair werten). Wir dürfen notorische Schwänzer und Kinder mit psychologischen Problemen nicht in einen Topf werfen – was aber oft gemacht wird: “Was? Er schwänzt die Schule? Dann muss er ja psychische Probleme haben…”