Eine «normale Woche» in Deutschland: Drei getötete Kinder

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BERLIN. Eltern, Stiefeltern, Verwandte: Eigentlich sollten sich Kinder bei ihnen besonders sicher fühlen. Doch oftmals finden sich die Täter gerade hier, wenn Kinder gewaltsam zu Tode kommen. Kinderschützer fordern, mehr dagegen zu tun.

Im baden-württembergischen Lichtenau soll ein Vater seine 18 Monate alte Tochter getötet haben. In Mecklenburg-Vorpommern wurde ein totes Baby in einem Rucksack auf freiem Gelände entdeckt. Und am Montag wurde bekannt, dass in Aldingen in Baden-Württemberg ein knapp zwei Jahre altes Mädchen starb, nachdem es mit seinen Geschwistern über Nacht alleine in der Wohnung war. Das Kleinkind soll völlig verwahrlost gewesen sein. Die alleinerziehende Mutter sitzt in Untersuchungshaft.

Drei tote Kinder innerhalb einer Woche. «Statistisch gesehen eigentlich eine ganz normale Woche in Deutschland», sagt der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Georg Ehrmann, und zieht einen Vergleich: Was wäre, wenn die Toten nicht Kinder sondern Ausländer wären, die durch rechte Schläger zu Tode kamen? «Ich bin mir sicher, nach einer solchen Woche säße in dieser Bundespressekonferenz der Innenminister, und die Lichterkette würde schon vorbereitet werden», meint Ehrmann. «An das Thema Kinder, an das Thema drei tote Kinder pro Woche hat sich Politik offensichtlich gewöhnt.»

146 Kinder unter 14 Jahren mussten im vergangenen Jahr sterben, weil man sich nicht ausreichend um sie kümmerte oder sie direkter Gewalt ausgesetzt waren. Das perfide: 74 Kinder kamen im sogenannten sozialen Nahbereich zu Tode, wie der Chef des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke sagt, «also in dem Lebensbereich, in dem sie sich besonders sicher fühlen sollten». Die Täter waren Eltern, Stiefeltern oder Betreuungspersonen. «Jeder einzelne Fall von Gewalt an Kindern ist eine Tragödie. Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und Gewalt von und an Kindern müssen noch frühzeitiger erkannt werden. Vor allem aber muss Anzeige erstattet werden», mahnt Ziercke.

Die Koblenzer Pädagogik-Professorin Kathinka Beckmann, sieht vor allem die Politik in der Pflicht. Allzu oft sei die Arbeit der Jugendämter von der Kassenlage der Kommunen abhängig. Und Ehrmann klagt über fehlende bundesweite Standards wie Hausbesuche. «Im Fall von Lea-Sophie in Schwerin gab es ein Gespräch mit der Mutter im Amt. Sie war kooperativ. Deswegen gab es keinen Hausbesuch. Das Mädchen verhungerte zu Hause», gibt er ein Beispiel.

Die Diplom-Pädagogin Katja Saalfrank, die durch die RTL-Serie «Super Nanny» bekannt wurde, glaubt aber nicht, dass man von einer Tendenz der Verrohung Kindern gegenüber sprechen könne. «Wir sind einfach viel sensibler geworden in den letzten Jahren», meint sie. Vieles falle heute früher auf. Gerade bei sexueller Gewalt gegen Kinder müsse man sich aber auch bewusst machen, dass Kinder auch «Nein» sagen könnten. Bekanntes Beispiel: Die Oma will einen Kuss vom Kind, dieses weigert sich, wird aber von den Eltern gedrängt. «Wir müssen ein „Nein“ von Kindern auch ernst nehmen», sagt Saalfrank.

Steigende Zahlen müssen nicht immer negativ sein – manchmal decken sie auch nur das Dunkelfeld auf. So stieg die Zahl der Kinder unter sechs Jahren, die Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. BKA-Chef Ziercke vermutet, dass die Menschen heute häufiger Anzeige erstatten. Zudem ist die Zahl der vorsätzlichen und fahrlässigen Kindestötungen im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2010 gesunken – um 20 Prozent. Demgegenüber stieg die Zahl der versuchten Morde und Totschlagsdelikte aber um ein Fünftel an. Seine Vermutung: Das schlimmste wurde möglicherweise durch Aufmerksamkeit verhindert, so dass aus dem versuchten Mord kein vollendeter wurde. ARNE MEYER und BETTINA GRACHTRUP, dpa

(29.5.2012)

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