Bildungsforscher: Zeitknappheit macht Bildung unmöglich

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WÜRZBURG (Mit Leserkommentar). Kürzer, schneller, effektiver – in Schulen und Universitäten bleibt für Bildung kaum mehr Zeit. Aber gehetzte Schüler und Studenten lernen nichts oder begreifen nur die Hälfte. Denn Bildung ist Verzögerung, sagt der Bildungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus.

Wissenschaftler: Zeitknappheit macht Bildung unmöglich; Foto: Gerd Altmann / pixelio.de
Wissenschaftler: Zeitknappheit macht Bildung unmöglich; Foto: Gerd Altmann / pixelio.de

Die Schulstunden sind getaktet, das Studium verkürzt: «Bildung ist so nur noch selten möglich», sagte der Würzburger Bildungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus. «Menschen brauchen Zeit, damit sie sich mit sich selbst und mit Inhalten auseinandersetzen können.» Der derzeitige Umgang mit Zeit in deutschen Schulen und Universitäten verhindere deshalb Bildung anstatt sie zu ermöglichen. Denn Bildung funktioniere vor allem mit einer Verzögerung, sagte der Professor an der Universität Würzburg. «Erst wenn Schüler quasi über etwas stolpern, kann Reflexion und damit Bildung einsetzen.»

Ursache für den bildungsfeindlichen Umgang mit Zeit sei eine Entwicklung, die im 18. Jahrhundert eingesetzt habe. «Seit Beginn der Moderne glaubt der Mensch, er selbst könne über die Zeit verfügen. Deshalb begreifen wir heute Zeit auch als Ressource.» Das Gymnasium in acht Jahren oder das verkürzte Studium im Bachelor oder Master – Bildungszeit werde überall verkürzt. Das habe Konsequenzen.

Von der Grundschule bis zum Studienabschluss werden Bildungsprozesse in immer kleinere Zeiteinheiten zergliedert. «Größere Zusammenhänge und Kritik spielen zunehmend eine untergeordnete Rolle», sagte der Bildungsexperte. Der Blick auf das Ganze, auf den eigenen Horizont gehe in der Hetze schnell verloren.

Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten werden dazu verführt, nur noch darauf zu achten, welche Qualifikationen morgen gebraucht werden. «Wir betrachten uns heute als fehlerhaft. Wir fühlen uns gezwungen, für eine kommende Zeit gerüstet zu sein. Darüber vergessen wir ganz, was Bildung eigentlich bedeutet», sagte der Bildungswissenschaftler.

Das Ergebnis eines solchen Bildungsverständnisses: «Es wird Anpassung gelehrt. Die Menschen in unseren Bildungsinstitutionen sollen ihre Aufmerksamkeit nur darauf richten, was morgen von ihnen gefordert wird.» Der Sinn für die Gegenwart gehe dabei verloren.

Nach Meinung des Würzburger Bildungswissenschaftlers sollte das deutsche Bildungssystem sich deshalb mehr Zeit lassen. «Zeitdruck und Hetze sind genau das Gegenteil von Bildung», sagte Dörpinghaus.

Andreas Dörpinghaus ist einer der führenden Bildungswissenschaftler in Deutschland. Vor kurzem hat er gemeinsam mit Ina Katharina Uphoff das Buch «Die Abschaffung der Zeit – Wie man Bildung erfolgreich verhindert» verfasst. HANNES VOLLMUTH, dpa

(01.07.2012)

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sofawolf
12 Jahre zuvor

Kürzer, schneller, effektiver? Nein, das ist der falsche Weg. Weniger, konkreter, intensiver – das ist das Gegenmodell, das ich in meiner Ausbildung lernte.