AUGSBURG (Mit Kommentar). Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten sei eine völlige Überforderung für viele Lehrer – meint jedenfalls der Bayerische Elternverband. Er verlangt umfangreiche und verpflichtende Weiterbildung und pädagogische Helfer in den Klassen.
«Die Lehrer sind noch nicht genügend vorbereitet auf Inklusion», sagte die stellvertretende Verbandsvorsitzende, Henrike Paede. Ihrer Ansicht nach wurden die Pädagogen ins kalte Wasser geworfen, als die bayerische Staatsregierung vor einem Jahr das Inklusionsgesetz verabschiedete. Ähnliche Regelungen stehen derzeit in allen Bundesländern auf der Agenda. Sie sollen Kindern mit Förderbedarf den Zugang zu allen Schulen ermöglichen.
Bei dem gemeinsamen Unterricht müssten Lehrer völlig umdenken und sich individuell auf die Kinder einstellen, sagte Paede. «Das haben unsere Lehrer nicht gelernt.» Sie bräuchten deshalb nicht nur eine intensive und verpflichtende Nachschulung, sondern auch pädagogische Helfer an ihrer Seite – etwa Erzieher, Heil- oder Sozialpädagogen.
Das Budget der Schulen oder Schulträger müsse so hoch sein, dass zumindest in den Hauptfächern und im Sportunterricht eine Doppelbesetzung möglich ist, forderte der Verband in einer kürzlich eingereichten Petition vom Bayerischen Landtag.
Inklusion ist grundsätzlich Aufgabe aller Schulen im Freistaat wie in den anderen Bundesländern. Die Abkehr vom Sonder- und Förderschulsystem geht auf die UN-Behindertenrechtekonvention zurück. Dem bayerischen Kultusministerium zufolge wurden bereits alle Lehrer der ersten und zweiten Jahrgangsstufe geschult – in zwei halbtägigen Veranstaltungen. Die dritte und vierte Jahrgangsstufe solle im Schuljahr 2012/13 folgen. Vertreter des Ministeriums und der bayerischen Bezirke verhandeln seit Mittwoch über Leitlinien für den Zugang behinderter Kinder zu den Schulen.
Unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern
In Nordrhein-Westfalen beschloss der Landtag vor der Sommerpause ein rot-grünes Eckpunktepapier, das Schülern mit besonderem Förderbedarf schrittweise ab dem Schuljahr 2013/14 einen Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht mit nicht behinderten Kindern einräumt. Der Anspruch auf inklusiven Unterricht soll jahrgangsweise aufgebaut werden und zunächst mit den Klassen 1 und 5 beginnen. Auch in Rheinland-Pfalz sollen die Eltern behinderter Kinder die Schulform künftig frei wählen können. In Niedersachsen sieht das neue Schulgesetz zur Inklusion hingegen vor, dass in begründeten Ausnahmefällen immer noch Kinder zwangsweise auf Förderschulen abgeschult werden können.
Das bayerische Inklusionsgesetz soll behinderten Schülern den Zugang zu herkömmlichen Schulen zwar grundsätzlich ermöglichen. In der Praxis allerdings hakt es: So mussten die Eltern einer gehörlosen Siebenjährigen unlängst vor das Augsburger Sozialgericht ziehen, weil der zuständige Bezirk die Finanzierung eines Gebärdendolmetschers ablehnte, der das Kind bei der Eingliederung in eine Regelgrundschule unterstützen soll. Den Antrag der Eltern hatten die Behörden abgelehnt, weil das Mädchen in einem Förderzentrum besser aufgehoben sei.
Marianne Demmer, Leiterin des Vorstandsbereichs Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), kritisierte noch unlängst die unterschiedlichen Vorstellungen zur Inklusion in den Bundesländern. “Es bleibt dabei: Jedes große Bildungsthema in Deutschland endet in Kleinstaaterei und föderalem Chaos – zum Schaden der Kinder und Jugendlichen, zu Lasten der Lehrkräfte”, sagte die GEW-Schulexpertin.
Sie befand, dass die meisten Länder die Tragweite des Themas bisher nicht erkannt hätten und viele Maßnahmen den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention nicht ausreichend entsprächen. “Inklusion meint nicht nur den Einbezug von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen, sondern das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu inklusiver Bildung in der allgemeinen Schule für alle, kurz: den generellen Abschied von der Selektion”, unterstrich Demmer. Sie schlug den Ländern vor, endlich die teure Doppelstruktur von allgemeinem, gegliedertem Schulsystem und Sonderschulwesen zu beenden. Bibo, mit Material von dpa
(11.8.2012)
Zum Kommentar: “Inklusion: Die Sorgen und Ängste ernst nehmen”
