2000 Schüler ohne Deutschkenntnisse – Berliner Schulen reagieren auf Romazuwanderer

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BERLIN. Immer mehr Roma kommen nach Deutschland, um ein besseres Leben zu finden. Sprachmittlerinnen sollen in Berliner Schulen jetzt für eine bessere Integration sorgen.

Galin (6) mustert kritisch das Angebot auf dem Spielbrett. «Ich nehme den Tiger. Mein Tiger ist so cool», sagt er und lacht voller Stolz. Der kleine Bulgare schiebt die Bildkarte mit dem Tiger auf das Brett. Theophil zappelt schon vor Ungeduld auf seinem Stuhl. Der Sechsjährige entscheidet sich ganz schnell für «der Polizeiauto». Das Substantiv kommt ihm akzentfrei über die Lippen, beim Artikel hapert es noch. Riana (7) greift nach einem Bagger: «Ich nehme die Bagger. Ich bin gut», sagt die Rumänin selbstbewusst. Sie besucht erst seit drei Monaten die Willkommensklasse in der Rixdorfer Grundschule in Berlin-Neukölln.

Schulalltag in einer der Neuköllner Brennpunktschulen, die seit zwei Jahren immer mehr Kinder aus zugezogenen Familien aus Südosteuropa aufnimmt. Die meisten von ihnen sind Roma. Fünf kleine Jungen und ein Mädchen beugen sich eifrig über den Tisch, um spielerisch mit Hilfe von Bildkarten die deutsche Sprache zu lernen. Nicht alle sind seit Schuljahresanfang dabei. Dementsprechend variieren ihr Wortschatz und ihre Grammatikkenntnisse, was den Unterricht erschwert.

Auch Köln bietet Roma-Kindern im Projekt "Amaro Kher" spezielle Integrationsprogramme an. (Bild: Alex Büttner)
Auch Köln bietet Roma-Kindern im Projekt „Amaro Kher“ auf sie zugeschnittene Integration an. (Bild: Alex Büttner)

Geduldig greift Lehrerin Christine Busse immer wieder ein. «Bitte sprecht in ganzen Sätzen», mahnt sie, korrigiert Aussprache und Artikel, ermuntert, diszipliniert. «Die Kinder haben es am Anfang schwer, wenn sie nichts verstehen. Doch sie sind lernwillig und kommen gern zur Schule», sagt Busse, die den Anfängern auch mit Erklärungen auf Rumänisch hilft. Sie ist eine der Sprachmittlerinnen, die der Senat bezahlt, um den Schuleinstieg für Roma zu erleichtern.

Hunderte von ihnen besuchen inzwischen Grund- und Oberschulen in Berlin. Sie kommen ohne Deutsch-Kenntnisse, viele haben bisher noch nie eine Schule von innen gesehen, Dutzende sind Analphabeten. Anke Peters, die Leiterin der Rixdorfer Schule, kennt die Probleme. 93 Prozent ihrer 370 Schüler sind nichtdeutscher Herkunftssprache. 42 von ihnen kommen heute aus Rumänien und Bulgarien, überwiegend Roma. Drei Lehrer und zwei Sozialarbeiter kümmern sich um sie.  Auch viele der Eltern könnten nicht lesen und schreiben oder Deutsch sprechen. Misstrauen im Umgang mit Behörden erhöhe die Distanz. «Wenn wir die Eltern dazu bringen können, uns zu vertrauen, dann haben wir viel gewonnen, auch in der Arbeit mit den Kindern», sagt Peters.

Dafür tut die Schule viel. «Wir informieren, begleiten und helfen den Eltern», berichtet Sozialarbeiter Nabil Awwad. Auf Flyern in ihrer jeweiligen Muttersprache werden den Eltern die Bedeutung von Pünktlichkeit, regelmäßigem Schulbesuch, Elternabenden und Ansprechpartnern in der Schule erläutert. Ein Elterncafé lädt einmal in der Woche zum zwanglosen Gespräch. Nach einiger Zeit öffnen sich die Eltern. «Das ist ein Neuanfang für die Roma hier. Sie begreifen Bildung als Aufstiegschance für ihre Kinder», sagt Awwad.

In Berlin leben schätzungsweise 20 000 Roma

Neukölln war einer der ersten Bezirke, der sich der Probleme angenommen hat. Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD) hat bereits den 3. Roma-Statusbericht veröffentlicht. Danach gibt es inzwischen 27 Willkommensklassen an 17 Neuköllner Schulen für Kinder ohne Deutsch-Kenntnisse – unter den 236 Schülern sind aber nicht nur Roma aus Bulgarien und Rumänien, sondern auch Syrer, Afghanen, Iraner, Iraker oder Türken. Berlinweit existieren nach Angaben der Schulverwaltung 168 solcher Klassen mit mehr als 2000 Schülern.

Der Senat geht von 20 000 Roma in Berlin aus. Nach Angaben von Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) wuchs allein 2012 die Zahl der Bulgaren in Berlin um 24 Prozent auf jetzt rund 16 000, die der Rumänen um 25 Prozent auf rund 8400. Und ihre Zahl wird nach Einschätzung Kolats noch steigen.

Migrationsforscher hatten jüngst vor Panikmache gewarnt. Prof. Klaus J. Bade von der Universität Osnabrück kritisierte im dpa-Gespräch, dass in der Diskussion um die Zuwanderung aus Südosteuropa kaum berücksichtigt werde, dass rund 80 Prozent der zwischen 2007 und 2010 zugewanderten Bulgaren und Rumänen sozialversicherungspflichtig auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt seien.

Die Neuköllner Stadträtin Giffey sagt: «Wir müssen akzeptieren, dass dies keine Pendelmigration ist. Es handelt sich um eine Wanderungsbewegung hin zu besseren Lebensverhältnissen, um sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen.» Zudem hätten Kinder in Deutschland das Recht auf Beschulung unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

«Es gibt eine Armutswanderung innerhalb Europas als Konsequenz der Freizügigkeit», betont auch Berlins Integrationsbeauftragte Monika Lüke. «Viele Roma, die nach Deutschland und Berlin kommen, bleiben. Wir müssen hierfür Lösungen finden.» Doch das Land Berlin könne die Probleme nicht allein lösen.

Lüke wie Giffey sehen die EU wie die Bundesregierung in der Verantwortung. «Die EU muss in den Heimatländern Rassismus und Diskriminierung der Roma entgegenwirken», fordert Lüke. Die Bundesregierung habe bisher leider viel zu wenig getan, wenn man bedenke, dass sie den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur EU 2007 mitverhandelt hat, meinen die Experten. Mehr finanzielle Unterstützung vom Bund fordert auch Berlins Integrationssenatorin.

Es mangelt vor allem an Wohnungen

Berlin will die Integration der oft in prekären Verhältnissen lebenden Zuwanderer jetzt verbessern. Der im Hause Kolats ausgearbeitete Aktionsplan Roma soll im April vom rot-schwarzen Senat verabschiedet werden. Im Fokus stünden Bildung, Wohnraum und Gesundheit, erläutert Lüke. «In der Bildung geht es nicht nur um den Schuleinstieg mit besonderen Förderklassen, in denen die Kinder erstmal Deutsch lernen. Genauso wichtig ist die berufliche Bildung, um den Jugendlichen eine Perspektive jenseits von Betteln, Autoscheiben putzen und Prostitution zu bieten.» Beim Thema Gesundheit stehe zunächst das Impfen der Kinder im Mittelpunkt, um so für eine Grundimmunisierung zu sorgen.

Für sozialen Zündstoff sorgt nach Aussage der Expertinnen vor allem der mangelnde Wohnraum. Viele Roma lebten in völlig heruntergekommenen, oft überbelegten und überteuerten Wohnungen. Überquellende Mülltonnen und Lärm führten zwangsläufig zu Konflikten mit den Nachbarn. Giffey benennt in ihrem Bericht die Missstände:

«Verschimmelte Wände, fehlendes Warmwasser, defekte Klingelanlagen, Nutzung der Hauseingänge durch Dritte als „öffentliche Toilette“, unzureichende Mülltonnen und teilweise keine Heizung im Winter.»

Wer gar nichts findet, oder aus seiner Wohnung fliegt, lebt auf der Straße. «Es gibt eine hohe Dunkelziffer, die niemand genau kennt», sagt Lüke. Der Senat plane deshalb eine größere Notunterkunft für diese Roma-Familien als Erstversorgung. «Ein Tropfen auf den heißen Stein», wie die Integrationsbeauftragte einräumt.

Es gibt aber auch positive Beispiele. Eine große Wohnanlage in der Harzer Straße in Neukölln wandelte sich von der Schrottimmobilie zum schmucken Vorzeige-Projekt. Eine Wohnungsgesellschaft, die zur katholischen Kirche gehört, kaufte im Sommer 2011 das als «Müllhaus» verschriene Gebäude und sanierte es. Schon damals wohnten mehr als 500 Roma dort.

«Wir haben es saniert, obwohl Roma dort gelebt haben. Denn es geht um die Menschen», sagt Geschäftsführer Benjamin Marx heute. Er sei erschreckt gewesen über die katastrophalen Wohnverhältnisse, wo kleine Kinder im Dreck neben Ratten spielten. «Zu Beginn habe ich gedacht, entweder fliegt mir das salopp gesagt als Zigeunerlager um die Ohren oder es gelingt», berichtet der resolute Endfünfziger. Heute leben rund 600 Menschen in den 137 Wohnungen, zu 80 Prozent Roma, aber auch Schweizer, Deutsche, Türken, Araber und Afrikaner.

Die früher abbröckelnde Fassade ist gedämmt und frisch gestrichen. Im begrünten Hof ist zu besichtigen, wozu Müll sich auch eignet: Bunt gesprenkelt stehen dort aus Plastikabfällen fabrizierte Tische und Bänke. Der Recycling-Künstler Gerhard Bär arbeitet in einer Werkstatt vor allem mit Kindern. «Sie sollen lernen, was man mit Müll sinnvoll machen kann.»

Viele der rumänischen Roma lebten inzwischen von der eigenen Arbeit beim Bau oder im Reinigungsgewerbe. Marx Devise lautet: «Ich begegne den Leuten auf Augenhöhe und übertrage ihnen Verantwortung. Ich mache nichts für die Roma, sondern etwas mit ihnen zusammen.»

Für Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats der Deutscher Sinti und Roma, hat Marx ein Beispiel geschaffen, das andere Länder nachahmen sollten. «Die Situation Osteuropas lässt sich nicht im Westen lösen», weiß auch Rose. Den Roma müssten in ihren Heimatländern Chancen auf Bildung und Arbeit gegeben werden. «Doch hier wurde gezeigt: Wenn man ihnen eine Chance gibt, dann nehmen sie sie auch wahr.» Kirsten Baukhage/dpa

(6.4.2013)

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