Eine Chance für begabte, aber benachteiligte Schüler: das Ganztags-Gymnasium

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OBERHAUSEN. Ganztagsschulen können helfen, mehr Chancengerechtigkeit ins deutsche Bildungssystem zu bekommen. Am Elsa-Brandström-Gymnasium in Oberhausen beispielsweise schaffen auch Einwandererkinder, die ohne die Hilfe ihrer Eltern auskommen müssen, das Abitur.

Bis 16 Uhr dauert am Elsa-Brandström-Gymnasium in Oberhausen der Unterricht. Foto: timlewisnm / flickr (CC BY-SA 2.0)
Bis 16 Uhr dauert am Elsa-Brandström-Gymnasium in Oberhausen der Unterricht. Foto: timlewisnm / flickr (CC BY-SA 2.0)

Als Lutmir Krasniqi vor sieben Jahren aus dem Kosovo ins Ruhrgebiet kam, sprach er kein Wort Deutsch. Vor ein paar Wochen hat der 18-Jährige Abitur gemacht – mit einem Durchschnitt von 1,4. Einer seiner beiden Leistungskurse war Deutsch, die Sprache, in der er bei seiner Ankunft noch nicht mal bis 10 zählen konnte. Es gibt durchaus solche Erfolgsgeschichten im deutschen Schulsystem. Es sind nur zu wenige.

Immer wieder zeigen Studien: Der Bildungserfolg in Deutschland hängt stark vom Elternhaus ab. Seit vielen Jahren diskutieren Bildungspolitiker darüber, wie man das ändern kann. Klar ist: Der Ganztag bietet gerade benachteiligten Schülern Chancen.

Lutmirs Familie ließ sich 2006 in Oberhausen nieder, einer der ärmsten Städte Deutschlands. Im Zentrum stehen viele Geschäfte und Kaufhäuser leer. Auch das Elsa-Brändström-Gymnasium, ein düsterer Backsteinbau, könnte mal wieder einen neuen Anstrich gebrauchen. Und doch hat Lutmir genau hier seine Liebe zur deutschen Sprache entdeckt.

Als er damals neu auf die Schule kam, ging er zunächst in die «Internationale Vorbereitungsklasse» (IVK), in der er zusammen mit einigen anderen ausländischen Kindern Deutsch lernte. «Ich hatte echt Angst am Anfang», erinnert er sich. «Ich dachte, ich schaffe das nicht.»

Doch bald schon konnte er sich mit den anderen Schülern unterhalten – heute spricht er zwar mit Akzent, aber grammatikalisch lupenrein. Nach zwei Jahren wechselte er in eine Regelklasse mit Gleichaltrigen. Wieder hatte er leichtes Bauchgrimmen: «Man hat Angst. Man will nicht ausgelacht werden. Aber die Lehrer haben mir immer Mut gemacht. „Wir wissen, dass du das kannst“, haben sie gesagt.»

Seine Eltern konnten ihm nicht helfen, «höchstens mein Vater mal mit einfachen Aufgaben». Daran scheitern in Deutschland zahllose Schulkarrieren. Schulen, insbesondere die Gymnasien, bauen auf die Eltern. Sie gehen davon aus, dass der Stoff zuhause nachgearbeitet wird. Das Pauken soll am heimischen Schreibtisch erledigt werden – auch bei vielen Ganztagsschulen ist das so. Eine repräsentative Umfrage der Universität Bielefeld hat ergeben, dass 77 Prozent der Eltern ihren Kindern bei der Vorbereitung von Klassenarbeiten und Referaten helfen. 63 Prozent erarbeiten sogar «grundsätzlich gemeinsam mit ihrem Nachwuchs den Lernstoff».

Das setzt Maßstäbe. Auch für die übrigen Kinder, die zuhause keine Hilfe bekommen. Weil ihre Eltern nur Hauptschulabschluss haben. Weil sie kaum Deutsch sprechen. Oder weil sie alleinerziehend sind und tagsüber arbeiten müssen.

Das mehrfach ausgezeichnete Elsa-Brändström-Gymnasium hat die Hausaufgaben schon vor längerem abgeschafft. Was anfangs für einige Aufregung sorgte: «Irgendwo ist das bei allen im Kopf drin: Zur Schule gehören auch Hausaufgaben», sagt Schulleiterin Brigitte Fontein. Viele Eltern seien keineswegs dankbar, wenn ihnen die Paukerei abgenommen werde. «Sie befürchten Kontrollverlust.»

An dem Oberhausener Gymnasium wird die Übungsphase in den Unterricht eingebaut – spezielle Hausaufgabenstunden gibt es nicht, dafür gezielte Förderung. Dann übt ein Fachlehrer mit höchstens vier Schülern. Spätestens um 16 Uhr gehen alle nach Hause – und haben dann auch nichts mehr auf.

Sechs Stunden in der Woche sind für Freiarbeit reserviert. Das sieht dann zum Beispiel so aus: Die Tür der Klasse 6d ist weit geöffnet, die Schüler haben sich in Dreiergruppen auf Decken über den Gang und einige angrenzende Räume verteilt und arbeiten alle an unterschiedlichen Aufgaben, die sie selbst gewählt haben. Die zwölf Jahre alte Beyza, ein türkischstämmiges Mädchen mit Kopftuch, hält der Lehrerin gerade ein Blatt hin und fragt: «Frau Medas, können Sie mir das hier nochmal erklären?»

Mehr als die Hälfte der 27 Kinder in der 6d kommt aus Migrantenfamilien. Da hilft es der Lehrerin Naica Medas, dass sie selbst aus einer deutsch-italienischen Familie stammt. «Ich kann mich gut in Menschen hineinversetzen, die diese Sprachbarriere haben und nicht so durchstarten können», sagt sie. «Mütter, die kaum Deutsch sprechen, haben natürlich erstmal Hemmungen, auf eine Lehrerin zuzugehen. Aber man darf mangelnde Sprachkompetenz nicht mit mangelnder Bildung gleichsetzen.»

Beyza ist eine gute Schülerin, sie schreibt Einsen und Zweien. «Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich, denn sonst kann ich ja nichts lernen», sagt sie im Brustton der Überzeugung. «Meine Eltern waren nicht so lange in der Schule, die können das nicht.» Später will sie Architektin werden. Oder Ärztin. «Auf keinen Fall zuhause bleiben.» Es ist noch ein langer Weg bis dahin, aber im Moment sieht es gut für sie aus. CHRISTOPH DRIESSEN, dpa

 Zum Bericht: „GEW will gesetzlichen Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Schüler“

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