Ein Kommentar von NINA BRAUN.
Es ist schon bemerkenswert, woran sich Bildungsdebatten in Deutschland mittlerweile entzünden. Die ICIL-Studie, an der weltweit Hunderte von Wissenschaftlern gearbeitet haben, um im großen Maßstab Computerkompetenzen von Schülern zu erfassen und zu vergleichen, wurde hierzulande unlängst eher mäßig interessiert aufgenommen – obwohl die Befunde, dass deutsche Schüler nur mittelprächtig abschneiden und dass Fachunterricht nirgends so wenig digital unterstützt wird wie in Deutschland, durchaus Beachtung verdient hätten. Jetzt genügte ein „Tweet“ einer Schülerin, eine Kurznachricht im Netzwerk Twitter also, um die deutsche Bildungswelt in Aufregung zu versetzen.
„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen”, so lautet die Notiz der 17-jährigen Naina. Und Lehrerverbände, die Bundesbildungsministerin sowie Medien von RTL, über die „Bild“-Zeitung bis hin zur bildungsbürgerlichen FAZ kommentieren die Aussage. Die Diskussion brandet hoch – einerseits melden sich diejenigen zu Wort, die sich als Bewahrer der humanistischen Bildung aufschwingen (interessanterweise auch „Bild“) und meinen, Steuer- und Versicherungsangelegenheiten lehrten besser das Leben oder die Eltern, aber eben nicht die Schule. Auf der anderen Seite diejenigen, die immer schon der Meinung waren, das Thema Finanzen und Wirtschaft komme zu kurz in den Schulen – und deshalb habe das Mädchen Recht. Beide Argumentationsstränge greifen zu kurz.
Die Kernfrage, mit der der Tweet den Nerv vieler Menschen getroffen hat, ist doch die, wofür wir unsere jungen Menschen bilden. Die Antwort sollte lauten: Um mit einem soliden Fundament aus Wissen und Kompetenzen ein selbstbestimmtes Leben als Bürger und Wirtschaftssubjekt führen zu können. Bildung ist kein Selbstzweck. Auch wenn natürlich zur Bildung weit mehr gehört als das, was später im Berufsleben wichtig ist, so muss doch hinterfragt werden dürfen, ob die Inhalte, die heute in der Schule (und im Gymnasium vor allem) vermittelt werden, unsere Kinder tatsächlich zum eigenständigen Leben im 21. Jahrhundert befähigen. Dabei sind Zweifel durchaus angebracht.
Die eingangs erwähnte ICIL-Studie beispielsweise macht deutlich, dass unsere Schüler große Defizite in Sachen Medienkompetenz haben – nur die wenigsten können Inhalte aus dem Internet nach Gehalt sortieren. Das aber ist eine Kernkompetenz, um sich später selbstständig neues Wissen aneignen und gesellschaftlich partizipieren zu können. Ist es wirklich gut, dass Oberstufenschüler im Fach Englisch Shakespeare im Original lesen, aber nicht vermittelt bekommen, wie sie in ansprechender und zeitgemäßer Form auf Englisch kommunizieren können? Ist es sinnvoll, wenn unsere Schüler deutsche Literatur der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts analysieren – aber mit Excel in der Schule nicht in Berührung kommen? Wie viele Kenntnisse über das Mittelalter braucht ein Schüler, der in der Schule oftmals viel zu wenig über die Grundregeln der modernen Demokratie erfährt?
Bildung ist, und das vergessen Vertreter der alten Schule allzu oft, dynamisch. An altem, vermeintlich unverzichtbarem Wissen zu kleben, hilft den Jungen nicht. Die Reaktion der Schulleiterin von Naina auf deren Tweet („dumm und fahrlässig“) macht deutlich: Ein bisschen mehr Fähigkeit zur Selbstkritik würde uns Erwachsenen, die wir darüber mitzuentscheiden haben, was unsere Kinder lernen, nicht schaden.
Zum Bericht: Nerv getroffen: Schülerin löst mit Tweet Bildungsdebatte in Deutschland aus

