HAMBURG. Fast 80 Jahre, nachdem sie ihre Dissertation geschrieben hatte, hat die Berliner Professorin Ingeborg Syllm-Rapoport im Mai auch ihre mündliche Prüfung am Hamburger Universitätsklinikum abgelegt. Am kommenden Dienstag erhält die 102-jährige ihre Promotionsurkunde. Für Rapoport ist es auch ein späte Wiedergutmachung. Die Zulassung zur mündlichen Prüfung war ihr einst wegen ihrer jüdischen Abstammung von den nationalsozialistischen Hochschulbehörden verwehrt worden.
1937/38 hatte Syllm-Rapoport als Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus Hamburg gearbeitet und ihre Doktorarbeit geschrieben. 77 Jahre nach dem Einreichen ihrer Dissertationsschrift über Diphtherie legte sie im Mai nun ihre mündliche Doktorprüfung erfolgreich ab – vor Professoren des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).
Ihr Doktorvater war einst Rudolf Degkwitz, der später wegen seines Widerstandes gegen die Kinder-Euthanasie vom Volksgerichtshof zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Er bescheinigte ihr 1938, «dass diese Arbeit von mir als Doktorarbeit angenommen worden wäre, wenn nicht die geltenden Gesetze wegen der Abstammung des Frl. Syllm die Zulassung zur Promotion unmöglich machten».
Für die mündliche Prüfung fast acht Jahrzehnte später paukte die Doktorandin mit Hilfe von Angehörigen und Freunden, berichtete das «Wall Street Journal». Wegen ihrer Sehschwäche könne sie weder einen Computer nutzen noch Bücher lesen. Nach der 45-minütigen Prüfung sagte der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Uwe Koch-Gromus: «Nicht nur unter Berücksichtigung ihres hohen Alters war sie einfach brillant.»
Das UKE möchte mit der nachgeholten Verleihung des Doktortitels zur Aufarbeitung der dunkelsten Seiten deutscher Geschichte an den Universitäten und Hochschulen beitragen, wie Koch-Gromus erklärte. Geschehenes Unrecht könne aber nicht wieder gutgemacht werden. Die Promotionsurkunde soll bei einer Feierstunde übergeben werden. Dann darf sich Syllm-Rapoport «Prof. Dr. Dr.» nennen.
1938 emigrierte die Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin in die USA und machte dort ihren ersten Doktor. 1944 lernte sie in Cincinnati (Ohio) ihren Mann, den Mediziner und Biochemiker Samuel Mitja Rapoport (1912-2004), kennen.
Beide engagierten sich in der Kommunistischen Partei. US-Präsident Harry S. Truman verlieh Samuel Rapoport nach dem Krieg eine Auszeichnung für seine Forschung zur Konservierung von Blut. Dennoch drohte ihm Anfang der 50er Jahre eine Vorladung wegen seiner kommunistischen Aktivitäten. Rapoport erfuhr davon auf einer Konferenz in der Schweiz und kehrte nicht in die USA zurück.
Er und seine Frau zogen 1952 nach Ost-Berlin, wo sie an der Charité arbeiteten. Syllm-Rapoport habilitierte sich 1958 und wurde im Jahr darauf Dozentin an der Charité-Kinderklinik. 1968 wurde sie zur ordentlichen Professorin berufen. Sie baute die Abteilung für Neonatologie (Neugeborenenheilkunde) an der Charité auf. 1984 erhielt sie den Nationalpreis der DDR.
Jetzt dürfte Syllm-Rapoport die älteste Doktorandin der Welt sein. Das Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet bislang den Medizinprofessor Heinz Wenderoth aus Elsfleth bei Bremen als den ältesten Menschen, der je eine Doktorprüfung abgelegt hat. Wenderoth hatte im Jahr 2008 als 97-Jähriger über Zellbiologie in Hannover promoviert. Seine Karriere hatte er einst ebenfalls als Kinderarzt begonnen, im Jahr 1936 am Hamburger UKE. (dpa)
zum Bericht: Unterbrochene Promotion mit 102 Jahren nachgeholt