SCHWERIN. Eine Forschungsgruppe der Universität Rostock will mit einem Modellprojekt auf Rügen nachgewiesen haben, dass Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam erfolgreich unterrichtet werden können – bei angeblich ähnlichem Mittel- und Personaleinsatz wie bisher. Die rot-schwarze Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern zeigt sich erleichtert (und wohl nicht nur sie). Die GEW allerdings bezweifelt die Übertragbarkeit der Ergebnisse.
Schüler mit und ohne besonderen Förderbedarf können erfolgreich gemeinsam unterrichtet werden. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der Forschungsbericht zum Rügener Inklusionsmodell, der nun in Schwerin vorgestellt wurde. Ein Forschungsteam um Professor Bodo Hartke von der Universität Rostock begleitete vier Jahre lang – bis Juli 2014 – Grundschulklassen auf der Insel Rügen, die nach einem Inklusionskonzept unterrichtet wurden, und verglich die Leistungen der rund 440 Schüler mit denen einer Kontrollgruppe in Stralsund. Wichtigstes Ergebnis: Kinder mit einem hohen Förderbedarf profitieren von der Inklusion, ohne dass es negative Effekte für die anderen Schüler gibt.
Bildungsminister Mathias Brodkorb (SPD) sprach von einem „positiven Gesamtbild”. Gleichzeitig seien die Ergebnisse ein Beleg dafür, dass “wir den Prozess der Inklusion behutsam und sorgsam vorbereiten müssen, um dabei Schüler, Lehrer und Eltern mitzunehmen“. Studienleiter Hartke betonte den Wert der Arbeit für die Inklusionsdebatte in ganz Deutschland: „Bemerkenswert an den Befunden ist, dass die gemeinsame Beschulung auf Rügen flächendeckend realisiert wurde“, erklärte er. „Bei deutlichen Förderbedarfen aufgrund von Beeinträchtigungen in den Bereichen Lernen, emotional-soziale Entwicklung oder Sprache konnte im Einzelfall nicht auf eine Beschulung in einer entsprechenden Förderschule einer Nachbarregion ausgewichen werden. Der gemeinsame Unterricht wurde für so gut wie alle von besonderem Förderbedarf betroffenen Kinder realisiert und nicht nur für Kinder von Eltern, die einen besonderen Wert auf die inklusive Beschulung ihres Kindes legen. Insofern bieten die Rügener Daten Anhaltspunkte um abzuschätzen, was geschieht, wenn Inklusion zum Regelfall wird“, sagte Hartke.
Ergebnisse im Einzelnen:
- In der Gruppe der Kinder mit einem hohen Förderbedarf sind positive Effekte im Bereich Lernen, tendenziell positive Effekte im Bereich emotional-soziale Entwicklung und im Bereich Sprache gleichwertige Fördererfolge wie in bisherigen Beschulungsformen zu verzeichnen, was zum Beispiel beinhaltet, dass lernschwache Kinder auf Rügen bereits nach drei Schuljahren die Schulleistungen erreichen, die vergleichbare Kinder in anderen Regionen erst nach vier Jahren erzielen.
- Die Häufigkeit von sonderpädagogischem Förderbedarf ist auf Rügen deutlich geringer als in der Kontrollgruppe (3,7 Prozent Rügen versus 11,4 Prozent Kontrollgruppe), das heißt, das inklusive Rügener Beschulungskonzept beugt sonderpädagogischem Förderbedarf in den Förderschwerpunkten Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache vor.
- Negative Effekte von Inklusion auf die Schulleistungen und Entwicklungsstände der Gruppe der Mitschüler sind auszuschließen, wogegen positive Effekte im Bereich emotional-soziale Entwicklung für die Gesamtgruppe aller Schülerinnen und Schüler vorliegen (die Gruppe der Schülerinnen und Schüler auf Rügen zeigt besonders niedrige Werte im Bereich „Verhaltensauffälligkeit“, aber hohe Werte im Bereich „Prosoziales Verhalten“).
Schulleiterin Silke Wolff sagte, an der Grundschule Mönchgut auf Rügen hätten die Lehrer schon immer versucht, Kindern die langen Wege zur Förderschule und das Herausreißen aus dem sozialen Umfeld zu ersparen. Es gehe in der Regel um ein oder zwei Kinder pro Klasse, die Schwierigkeiten hätten. Mit dem jetzigen Know-how seien die Lehrer in der Lage, diese Kinder mit zu unterrichten.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat allerdings andere Erfahrungen gemacht. Rügener Kollegen hätten sich an die GEW gewandt, weil sie Sorge um die Kinder haben, die aufgrund der ständigen Tests und Normung Angsterscheinungen haben, sagte eine Sprecherin. Sie selbst fühlten sich überlastet und fürchteten um ihre Gesundheit. «Die Akzeptanz für inklusive Beschulung geht fünf Jahre nach ihrer Einführung bei Lehrern sowie Eltern und Schülern gegen Null», sagte die GEW-Vorsitzende Annett Lindner. Eine Ursache sieht sie darin, dass seit dem Schuljahr 2010/11 an allen Grundschulen und nun auch weiterführenden Schulen im Land inklusiv unterrichtet wird. Die Inklusion sei überstürzt eingeführt worden.
Die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag, Simone Oldenburg, sagte, die Auswertung des Modellprojektes belege, dass inklusiver Unterricht an Grundschulen mit zusätzlichen Unterrichtsstunden und einer engen Begleitung durch die Universität Rostock möglich ist. Alle betroffenen Lehrkräfte seien fortgebildet worden. «Dies ist im übrigen Land bisher nicht der Fall», sagte sie.
Auch unter den Pädagogen auf Rügen gibt es laut GEW weiterhin Skepsis: 50 Prozent der Grundschullehrer haben noch Zweifel, ob bedürftige Schüler so die beste Förderung erhielten. 29 Prozent von ihnen würden förderbedürftige Kinder lieber nicht unterrichten, wenn sie es sich aussuchen dürften. News4teachers / mit Material der dpa
Zum Bericht: „Keine Lust auf Schüler mit Behinderung“ – Inklusionsbefürworter gehen auf Lehrer los
