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Juristischer Paukenschlag: Amtsgericht verurteilt Lehrer wegen Freiheitsberaubung, weil er sich vor die Klassentür setzte

NEUSS. Die Stunde war laut und nicht alle Schüler schrieben wie verlangt einen Wikipedia-Eintrag vollständig ab. Da setzte sich der Lehrer nach dem Ende der Stunde quer vor die Klassentür: Das war Freiheitsberaubung – sagt die Justiz.

Ort der Verhandlung: Das Amtsgericht Neuss. Foto: Stefan Flöper / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Es war laut, es war unruhig und seinen geplanten Unterricht zum «Teufelsgeiger» Paganini konnte Musiklehrer Phillip P. abhaken. Deswegen verpflichtete der 50-Jährige seine sechste Klasse einer Realschule in Kaarst zum Abschreiben des Wikipedia-Eintrags über den Musiker. Was sich dann abspielte, trug dem Lehrer am Mittwoch – pünktlich zum Beginn des neuen Schuljahres in Nordrhein-Westfalen – eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung ein.

Zum Ende der Stunde hatte der Pädagoge sich mit seinem Stuhl quer vor die Klassentür gesetzt, eine Gitarre auf dem Schoß. Wer raus wollte, musste den abgeschriebenen Text vorzeigen. «Alle wollten schnellstmöglich abgeben, damit sie nach Hause gehen konnten», berichtet Schüler J. im Zeugenstand. Doch mehrere Schüler durften zunächst nicht gehen – und Schüler J. wurde recht unsanft zurück geschoben. Da rief ein anderer per Handy die Polizei. In der Klasse würden Schüler festgehalten und geschlagen.

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Amtsrichter Heiner Cöllen attestierte dem Lehrer in Neuss, einen Schritt zu weit gegangen zu sein – «bei allem Verständnis für den schweren Job». Den Stoß in den Bauch des heute 13 Jahre alten Schülers wollte der Richter aber nicht wie die Anklage als Körperverletzung werten – und sprach den Lehrer von diesem Vorwurf frei.

Von einer Geldstrafe sah Cöllen ebenfalls ab und beließ es bei einer seltenen «Verwarnung mit Strafvorbehalt»: Wenn der Lehrer sich zum Umgang mit schwierigen Schülern fortbilde, also quasi selbst nachsitze, könne er sich 1000 Euro Geldstrafe ersparen.

GEW: “Bedenkliches Urteil”

«Bedenklich» nennt die NRW-Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Dorothea Schäfer, die Entscheidung: «Das passiert vermutlich jeden Tag in irgendeiner Schule in NRW. Es sollte möglich sein, dass Schüler auch mal fünf Minuten länger in einer Klasse bleiben.»

«Das Ende des Unterrichts bestimmt der Lehrer – sonst niemand», sagt auch Udo Beckmann vom Lehrerverband VBE, zeigt aber Verständnis für das Urteil: «In der Regel hat der Lehrer den Schüler nicht anzufassen. Damit geht er einen Schritt zu weit.» Schüler dürften nicht körperlich am Verlassen des Klassenraums gehindert werden.

«Es hat ein bisschen wehgetan» – Schüler J. blieb am Mittwoch bei seiner Aussage: Der Lehrer habe ihn bei der Rückgabe des Textes mit der Faust in den Magen getroffen. Absicht wolle er ihm aber nicht unterstellen – es könne auch ein Versehen gewesen sein.

Er habe lediglich einen Vordrängler zurück geschoben, sagte Lehrer P.. Sich in einer Reihe anzustellen, müsse schließlich möglich sein und notfalls auch beigebracht werden.

Eine reine Strafarbeit ohne pädagogischen Wert sei die Abschreiberei gewesen, kritisierte der Vertreter der Staatsanwaltschaft und beantragte 1.500 Euro Geldstrafe. Zuvor war die Behörde noch bereit gewesen, das Verfahren gegen 300 Euro Geldauflage einzustellen.

Doch der Musikpädagoge hatte abgelehnt, weil er sich für unschuldig hielt: «Es ging mir nicht ums Geld», betonte er. Sein Unterricht sei keine Strafarbeit gewesen und er müsse nicht alle Schüler gleichzeitig aus dem Klassenraum stürmen lassen. Ob er sich mit dem Urteil abfinden werde, wisse er noch nicht. Dabei habe er nichts gegen die Fortbildung: «Ich bin offen für Tipps.» Von Frank Christiansen, dpa

Zum Kommentar: Das Fatale an diesem Urteil ist die Signalwirkung

 

Was Lehrer dürfen - und was sie vor Gericht bringen kann

Halten Eltern eine Strafe des Lehrers für ihr Kind für überzogen, können sie Widerspruch beim Verwaltungsgericht dagegen einlegen. Das gilt etwa für Ordnungsmaßnahmen wie das Kehren des Schulhofes, die meist mit Vorlauf angekündigt werden. Der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung, sprich die angedrohte Sanktion tritt erstmal nicht in Kraft. Darauf weist Wilhelm Achelpöhler hin, Anwalt für Verwaltungsrecht in Münster. Richter müssen dann entscheiden, ob die Sanktion angemessen ist oder nicht.

Halten Eltern Reaktionen von Lehrern für ungerechtfertigt, können sie sich im ersten Schritt an die Schulleitung wenden und Beschwerde einlegen. Dann wird die Schulkonferenz darüber beraten. Jede Sanktion des Lehrers muss verhältnismäßig sein. Auf der untersten Stufe können Lehrer pädagogisch reagieren: «Sie können einen Schüler in eine andere Klasse schicken oder bis zu zwei Stunden nachsitzen lassen», nennt Achelpöhler als Beispiele. Alles über diese Zeitdauer hinaus sei unverhältnismäßig.

Als Zweites können Lehrer Ordnungsmaßnahmen ergreifen und das Kind etwa längere Zeit vom Unterricht ausschließen. Als schärfste Ordnungsmaßnahme gilt der Schulverweis. «Außerdem dürfen Lehrer noch eingreifen, um Gefahren abzuwehren», sagt Achelpöhler. Das gilt beispielsweise, wenn Schüler auf der Klassenfahrt Drogen nehmen und damit sich oder andere gefährden. In diesem Fall darf der Lehrer den Schüler nach Hause schicken.

 

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