Gastbeitrag: Flüchtlinge „14 aus Millionen; oder: Jedes Kind mag Schokolade“- Teil 3

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DÜSSELDORF. Erinnerung an Begegnungen mit geflüchteten Kindern: Flüchtlinge begegnen uns in den Medien allerorten. Doch in der „echten“ Realität erleben die meisten von uns nur selten ein wirkliches Zusammentreffen. Abgesehen von professionellen Betreuern und engagierten Bürgern bilden Lehrer und Schüler noch die Ausnahme. Sie haben in ihrem beruflichen Alltag direkt mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu tun. Zu engeren Beziehungen kommt es aber auch dabei in der Regel kaum.

Bei der 19-jährigen Schülerin, die uns den folgenden Text geschickt hat, ist das anders. Aus einem Schulprojekt heraus entwickelte sich eine komplexe Begegnung mit Flüchtlingen, die sie in einem literarischen Aufsatz verarbeitet hat, den wir hier in mehreren Fortsetzungen veröffentlichen.

3. Teil
(zum Beginn des Berichts gelangen Sie hier…)

Eine Woche später, am darauffolgenden Sonntag, ging ich wieder einmal hinüber zur Rheinstraßen-WG. Ich hatte nicht angefragt. Ich war einfach gekommen. Als ich die Tür zu seinem Zimmer öffnete, war es, als würde ich Syrien betreten. Die Trostlosigkeit war fast mit Händen zu greifen. Er hing in seinem Stuhl, rauchte und hörte Musik, die Augen geschlossen. Müde und emotionslos.
„Ich brauche dich, wie die Pflanzen die Sonne und Fische das Meer…“, sang Wael Kfoury leidenschaftlich.
„Du verstehst ja Arabisch!“, merkte er erstaunt auf und öffnete die Augen einen Spaltbreit. „Nur ein bisschen, ein paar Wörter. Ich kann mich nicht unterhalten. Aber ich kenne Kfoury.“
Ausnahmsweise trug er mal kein Kopftuch, die schwarzen Haare waren offen wirr.

Verschüchterte Kinder, die staunend vor der bunten Warenwelt in unseren Supermärkten stehen, diese Klischeevorstellung von Flüchtlingen geht an der Realität meist vorbei. Foto: garycycles / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)
Verschüchterte Kinder, die staunend vor der bunten Warenwelt in unseren Supermärkten stehen, diese Klischeevorstellung von Flüchtlingen geht an der Realität meist vorbei. Foto: garycycles / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Sie hätten keinen Tabak mehr, sie müssten morgen neuen besorgen. Dann mache er eben aus der Zimmerpflanze Durhan, erklärte er und schloss die Augen wieder. Durhan heißt Tabak. Und die Zimmerpflanze war eine normale, hässliche Pflanze, die in einem Topf auf dem Schreibtisch stand. Ich musste lächeln.
Habibi brachte drei Tassen mit dampfendem, schwarzen Tee und der Syrer erinnerte ihn daran, für mich Zucker reinzutun. Sehr lieb, dass er sich alles gemerkt hatte.
„Shukraaaan!“ (Danke), sagte ich.

Herr Infinitiv kam hereingestapft. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er schnappte sich zwei aus dem Schrank rausgebrochene Bretter und ließ sie gegeneinander krachen. „Ich muss üben! Ich muss wieder Holz hacken! Ich kann nur Holz! Nix sonst! Jetzt geh ich raus!“
„Pass auf dich auf“, murmelte der Dichter, ohne die Augen zu öffnen.
Ich warf einen Blick hinter mich. Jetzt zog mich nichts nach draußen und in meiner Wohnung gab es keinen Strom. Es war dunkel und kalt.
„Dankeschön von Herz!“, rief Herr Infinitiv noch, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Draußen krachte es, vermutlich die Baumaschinen, die unsere Straße aufrissen. Der Dichter zuckte nicht mal. Clown kam rein, fragte was auf Arabisch, erschrocken, verwirrt. Er antwortete dumpf, brüllte am Ende etwas, was wie RAUS! klang und Clown ging.
Der Syrer übersetzte: Clown habe gefragt, was da draußen los war, es klinge wie ferne Bomben, aber die gäbe es hier doch nicht? Nein gibt’s nicht, habe er geantwortet. „Das war keine Bombe, du Dummkopf. Es hat nix gewackelt, merkst du doch und jetzt RAUS!“
Schweigen. Dann fragte ich ihn, ob ihn das Geräusch nicht gestört hätte? Und er sagte: Mir egal, wo ich bin, ich höre es immer aus meinem Kopf.

Ihm war alles egal. Alles. Der Körper, der Blick, stumpf und willenlos.
Er konnte nicht schlafen, nicht essen, nicht lachen, nicht lernen. Nahm seine Medikamente nicht, weil man das nach dem Essen müsste. „Ich kann nur Kaffee machen!“ Alles, was außerhalb des Zimmers stattfinden musste, war seelische Schwerstarbeit. Er ignorierte alle, die ihm schrieben.

Konnte ich was tun? Kam ich ungelegen? Lag ihm etwas an meiner Gesellschaft oder nicht? Schwer zu sagen. Als ich Anstalten machte, zu gehen, sagte er: „Bleib! Ihr habt keinen Strom. Nicht gut, bleib! In Syrien gibt es manchmal nur eine Stunde am Tag Strom. Normal jetzt.“ War das Gastfreundschaft? Sympathie? Ich wünschte, ich könnte was zurückgeben.

Sein Handy, das irgendwo in der Ecke auf dem Boden lag, klingelte gegen die Musik an. „Das ist bestimmt mein Bruder!“, erklärte er unvermittelt. Mit einer Stimme, als hätte ihm jemand widersprochen und er müsste jetzt sagen: „Das ist er wohl!“ Ich war platt, machte den Mund auf und klappte ihn schnell wieder zu. Sein Tonfall duldete keine Antwort und schon gar keine rationalen Erklärungen. Ich schaute verwirrt zu Habibi, Der zuckte nur, als wollte er sagen: „Ignoriere das, das ist jetzt normal, er ist wirr.“
Vermutlich war der Wunsch einfach so rasend schmerzhaft, so groß und präsent, dass er vollkommen hohl drehte. Aber er ging nicht ans Handy, auch nicht, als ich irre sagte: Dann geh doch ran.
Er klang kalt, gefühlslos, fast spöttisch, als er sagte: „Egaaal, total egaal, das Handy. Ich lebe ohne. Geht sterben da!“

Dann schrie er. Schrie laut den Namen der Toten, die er nie wieder hören oder sehen würde. Schrie, als hätten diese sich nur versteckt und kämen jeden Moment um die Ecke. Als wüsste er es! Je länger das ging, desto schriller und verzweifelter wurde er.
So langsam bekam ich Angst. Aber er fing sich wieder. Habibi zog ihn in seine Arme und wiegte ihn zärtlich wie ein kleines Kind. Dort, sanft geborgen, wurde er ruhiger.
Wieder schwiegen wir eine unbestimmte Zeit lang und lauschten nur dem Atem der anderen.

Ich fragte ihn nach dem Leserbrief, er lachte nur höhnisch. „Mach ich nicht. Ist nicht mein Problem, was die Leute in Köln gemacht haben und ist mir auch egal, was die Leute von mir denken, wenn sie mich sehen. Das ist Kinderspiel. Ich weiß wer ich bin und dass das Scheiße ist, ich mach die Scheiße nicht.“
Schweigen.
„Warum“, fragte er mich, „warum darf ich nicht arbeiten als Flüchtling? Ich will euer Lebensgeld nicht, ich kriege Geld im Monat, weißt du. Ich will das nicht. Ich kann selber für Geld arbeiten!“
Dazu sagte ich nichts, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Wie so oft.

Ich blieb, bis ein Betreuer mich fortschickte. Da konnte sich unser Freund sogar aufraffen, mich zusammen mit Habibi nach Hause zu begleiten. Strom war wieder vorhanden.
Oben an der Treppe nahmen wir Abschied, sie kamen nicht mit rein. „Tschüss, Fufou“, sagte er leise. „Fufou?“ fragte ich.
„Von -; Kurzname.“
„Oh! Und deiner?“ – „Ich bin -.“ – „Kein Kurzname?“ Habibi schlug irgendwas vor. Er lachte. Dann sagte er plötzlich flüsternd, als würde er sich schmerzhaft erinnern: „Nenn mich Sesoou-iii!“ Vermutlich vom Nachnamen hergeleitet, dachte ich. „OK!“ „Das kennt mich!“, sagte er und die Stimme war so voller Schmerz, Heimweh und Traurigkeit, dass ich ihn nur noch fest drücken wollte. Aber er huschte schon treppabwärts, die Kapuze tief heruntergezogen, als hätte er das nie sagen wollen. Trotzdem lag auch etwas Liebevolles in „Sesou-iii!“
Ihr könnt immer kommen, sagte ich noch. Und zu.

***

Deutlich erinnere ich mich auch an den Abend, an dem ich dann die Blume „kennenlernen“ durfte. Sie rief ihn an, er fluchte, ging ran, redete fünf Minuten mit ihr, ganz nüchtern, sachlich, als würde es ihn nicht berühren und starrte anschließend eine unbestimmte Zeit lang an die Decke. Dann sagte er mit einer Stimme, als gäbe es einfach nicht den richtigen Tonfall dafür: „Das war Blume. Sie wollte meine Stimme hören und ich sagte, nimm das, das ist gut für heute. Vielleicht sie schläft jetzt.“

Ich hatte nicht viel mehr gehört als eine helle, frohe Stimme, die in einer fremden Sprache sprach. Aber es war wieder einer der Momente, die mich sprach- und hilflos zurückließen… Die richtige Antwort musste erst noch erfunden werden.

Um ihn abzulenken, holte ich schließlich meinen Notizblock hervor. „Das ist mein Name auf Arabisch geschrieben. Ich musste es neu schreiben. Stimmt das?“ Ich hatte die alte Seite vom ersten Treffen herausgerissen, weil es das Blatt war, auf dem Lisa auch den Davidstern und das Pentagramm gezeichnet hatte, das sie zur Weißglut trieb.

Tatsächlich lehnte er sich nach vorne und schaute! „Oh, nein, nein…“
Behutsam umfasste er den Stift und begann zu schreiben, wie schon hunderte Male zuvor.
Er führte meine Hand. Ganz langsam. Wieder und wieder, bis die Punkte stimmten. Doch, ja, ich sah den Lehrer in ihm. Er hatte die Geduld und Erfahrung in sich. Während er beschäftigt war, veränderte sich für einige Minuten sein Gesichtsausdruck. Er war abgelenkt, konzentriert. Ich hatte ihn bewegt, ihm etwas zu tun gegeben, das er schon konnte. Alles war besser, als ihn in diesem Loch dahindämmern zu lassen.

***

Zeit verging und die Politik änderte sich. Ich traf die Jungs nicht mehr oder erkannte sie auch schlicht nicht, denn auf der Straße grüßte mich nie jemand.
Die Leute, die gegen Flüchtlinge protestierten, wurden immer mehr. Es zermürbte mich.

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Und an noch eine Geschichte aus der Schule erinnerte ich mich:
Mit dem ersten Schnee kam nicht nur die kitschige Winterdeko ans Fenster der Fünftklässler, sondern auch Hedayatullah in unseren Englischunterricht. Zumindest für eine Stunde.
Er war ebenfalls ein Intensivklassenschüler, ein molliger Siebzehnjähriger mit Harry-Potter-Brille, geflüchtet aus Kabul, Afghanistan. Also einer von denen, über die der Dichter so gerne herzog.

Mich persönlich wunderte es überhaupt nicht, dass man meine Klasse für dieses Experiment ausgewählt hatte. Wir hatten Herrn Bilch als Lehrer, der bei der Schokoladendiskussion so eine großartige Rolle gespielt hatte.

Er war schon da, als die Rektorin pünktlich um acht mit unserem Gast erschien. „Das ist Hedayatullah und er schaut sich heute mal euren Unterricht an. Am besten, du stellst dich selbst vor.“
Der Junge, den sie neben sich geschoben hatte, wirkte, als täte er alles andere lieber.
„Ich muss los!“ Frau Rektorin verabschiedete sich.

Hedayatullah blieb starr in der Tür stehen und hielt sich an einer Karteikarte fest. Auf seinem T-Shirt prangte ein riesiger Stars-And-Stripes-Aufdruck.

Herr Bilch die Frohnatur hatte seinen Plüschbiber Hans Kaspar über die Hand gezogen und ließ ihn einladend in Richtung des freien Tisches winken. Wir lachten. Und der Afghane setzte sich.
„So jetzt sagt jeder mal was zu sich“, begann Herr Bilch auf Deutsch, „und dann bist du dran!“ So geschah es. Hedayatullah musste seinen Namen an die Tafel schreiben, damit Herr Bilch eine Chance hatte, sich diesen besser zu merken. Und dann begann der Unterricht.

Ja, ich hatte ihn schon einmal gesehen, diesen Jungen, fiel mir ein. Ich hatte sie alle schon wahrgenommen, die Intensivklässler, die hier an der Schule inzwischen Alltag waren, ohne wirklich präsent zu sein.
Sie waren zwar immer als größerer Haufen anzutreffen, doch verschwanden sie ebenso schnell wieder, wenn man näher kam.
Die Rauchereckenclique erschien als der einzige Teil der Bali, der sie etwas besser kannte, sie posteten hin und wieder Shisha-Fotos und gaben damit an.

Ein großes Stück Schulweg hatte ich in diesem Jahr mit den jungen Flüchtlingen gemeinsam, ich sah sie schwatzend vorbeiziehen.
Sie spielten in den Pausen Fußball und Kicker, lümmelten auf der Tischtennisplatte herum oder holten, was seltener vorkam, die Instrumente aus der Cafeteria. Beim Frühstück saßen sie an einem separaten Tisch. Einer nahm das angebotene Obst und teilte es unter allen auf – bis ihnen irgendwann erklärt wurde, dass jeder von ihnen so viel nehmen durfte, wie er wollte.
Lachend zeigten sie auf die schlangenartigen Spuren, die Blindenstöcke im Schnee hinterlassen und liefen ihnen nach. Sie bewarfen sich mit Schnee, wälzten und prügelten sich darin. Nigger steckte ihn sich gerne in den Mund oder in die Jacke – oder in den Kragen von Herrn Infinitiv, der ihn dann einmal quer übers Gelände jagte.
Den Koch inspirierten sie zu neuen, uns unbekannten Gerichten aus ihren Heimatländern.

Einmal fiel A., der mit seinen rötlichbraunen Locken eine echte Seltenheit unter den Schwarzhaarigen darstellte, vom Apfelbaum und brach sich ein Bein, deswegen fiel für uns eine Stunde aus, hieß es auf dem Gang. Doch das alles waren immer nur Randerscheinungen, Sätze, Infos, die von Lehrer zu Lehrer flogen oder Situationen, die man zufällig mitbekam, weil es sich so ergab. Unser Verhältnis zu den Jungen – Lisa und mich durch die Treffen mal ausgenommen – war distanziert und freundlich. Es waren eben ‚die Flüchtlinge‘, von denen niemand so genau wusste, wie sie hießen oder wo ihr Klassenraum lag.
„Wenn die Flüchtlinge etwas mit uns zu tun haben wollen, sollen sie selbst kommen!“, war Usus bei den unserigen. Und da sie das nicht taten, blieb alles beim Alten. Der anfängliche Hype schien vorüber und die Jungen lebten unter sich in ihrer unausgesprochenen Blase weiter.
Man erkannte sie im Allgemeinen an ihren roten Halbschuhen, den Handys (vom offiziellen Handyverbot waren sie, auch während des Unterrichts, ausgenommen) und bedruckten Teetassen, mit denen sie überallhin flitzten.
Zu Beginn des Jahres hatte die Schulleitung einen Satz Tassen gestiftet, eine für jeden neuen Intensivschüler, mit dem Schriftzug: „Willkommen in M. – NAME!“ (Allerdings stimmten die meisten Aufdrucke nicht, weil die Namen falsch in der Akte gestanden hatten, erzählte mir später jemand.)
Und natürlich erkannte man sie auch an der Sprache: Sie redeten untereinander nur selten Deutsch.

In der Stunde stellte sich Hedayatullah auf Deutsch vor, bat aber später, Englisch sprechen zu dürfen. Er habe in Afghanistan sein Abitur gemacht, flüsterte er scheu, dann habe er ein Semester Medizin studiert. Er habe einen Test gemacht und dann hätte er durch die Amerikaner studieren dürfen. Später einmal wolle er Arzt werden und zu Ärzte ohne Grenzen gehen.
Herr Bilch wirkte völlig gelassen, folgte seinem Motto, als wäre es ganz normal, einen Afghanen in der Klasse zu haben. Ein Mitschüler. Wie er es zu uns gesagt hatte.
Nichts, auch nicht ein Flüchtling, würde ihn von seinem Unterrichtsstil abbringen, zu dem es durchaus mal gehörte, spaßeshalber bestialisch schreiend durch den Raum zu rennen und Zorro zu spielen, wenn ihm zufällig der nur noch mit Kaugummi an der Decke befestigte Vorhang auf den Kopf fiel. Total normal.

Er fragte in die Runde, ob irgendwer noch etwas von Hedayatullah wissen wolle.
Keiner von uns meldete sich. Dabei mangelte es an Fragen sicher nicht. Mich persönlich hätte es, abgesehen von den Sachen, die man ja nicht fragen durfte, brennend interessiert, was er von diesem hochtechnisierten, zugemüllten Klassenraum hielt, wie er den Unterricht kannte und was er hier erwartet hätte.
An den Inhalt der Stunde erinnere ich mich nur noch oberflächlich. Wir mussten in Gruppenarbeit eine Geschichte schreiben deren Ort, Zeit und Figuren wir zuvor erwürfeln sollten, auf Englisch natürlich. Also beispielsweise: Paddington Bär – russisches U-Boot – Mitternacht. Es standen ein paar Dinge zur Auswahl.
Zum Schluss wurden die Ergebnisse präsentiert. Hedayatullah war weder in meiner Gruppe, noch las er die Story seiner Gruppe vor, sodass ich nicht weiß, was herauskam. Er verhielt sich still und blieb unsichtbar.

Als nach dem Läuten die Tür aufging, wurde er von drei seiner Klassenameraden wie ein Held empfangen. Sie johlten und klatschten, zogen ihn in ihre Mitte und bestürmten ihn laut mit Fragen.
Zu gerne hätte ich jetzt Persisch verstanden.
Brüderlich legten sie die Arme umeinander und begrüßten sich, als hätten sie sich ewig nicht gesehen. Die drei Freunde hatten offensichtlich auf Hedayatullah gewartet.

Ich stand im Flur und sah ihnen nach, wie sie in Richtung Speisesaal davonrannten. Morgen würde er wiederkommen und meine Buchpräsentation mit anhören, die ich extra für ihn nochmals inhaltlich frisiert hatte.
Obwohl für die Handlung eigentlich von großer Bedeutung, hatte ich den Abschnitt über die beiden Jungen, die aus einer fiktionalen Dystopie fliehen müssen, auf den selten dummen Satz: „They came into wilderness and survived a lot of adventures there“ reduziert.
Doch auch wenn Herr Bilch am nächsten Morgen sorgfältig alle Schränke aufriss und durchsuchte („Also hier ist er nicht!“) – Hedayatullah blieb verschwunden.

Er kam gar nicht wieder. Lieber wolle er noch mehr Deutsch lernen, das sei für ihn wichtiger, da er darin auch seine Prüfungen schaffen müsste, erklärte die Rektorin später. Niemanden interessierte es so wirklich.
Und so war die Stunde bald nur noch eine von vielen im Klassengedächtnis, von der man als beteiligter Schüler vielleicht wusste, wer da gewesen und dass da irgendwas Neues passiert war, aber nicht, ob das die Stunde war, in der alle die Hausaufgaben gemacht hatten, ob mal wieder jemand spektakulär die Tafel vollgekritzelt oder den – eigentlich verbotenen – Wasserkocher in Betrieb genommen hatte. Sie versank einfach in dieser stressigen Vorweihnachtszeit, zusammen mit den anderen Lektionen von Hans Kaspar, die randvoll waren mit Präsentationen, Klausuren, Abgaben.

Bei der Weihnachtsfeier hielt der Schulleiter wie immer eine festliche Ansprache vor allen Schülern. Auch die Intensivklasse sei gekommen, verkündete er laut, die Jungen säßen dort vorne. Man konnte beinahe hören, wie der ganze Saal sich einmal drehte, um zu glotzen.
„Diese Schule will sich der großen Integrationsaufgabe nicht entziehen“, ging es weiter. Und erinnern wir uns, dass Maria und Josef einst auch Flüchtlinge waren, die des nachts…“ Ich hörte nicht mehr hin, bis er auf die Spendenaktion von Hendrik zu sprechen kam. Doch es blieb bei einem einzelnen Satz dazu, den erreichten Betrag nannte er nicht.
Alle – außer mir – klatschten begeistert und dann versuchte der Schulleiter noch schnell, Hendrik auf die Bühne zu holen, der jedoch nicht in der Aula zu finden war.

Ob der Dichter wohl wegen der Aktion mit ihm gesprochen hatte? Auch das erfuhr ich nie.

***

Jetzt gab es immer wieder dieselben Bilder in den Medien: Massen von Menschen, die da kommen, Bedenken, Zweifel, ein „Wir schaffen das nicht“!
Fast rissen sie mich mit: Vielleicht brauchten wir ja wirklich einen Grenzschluss, eine Obergrenze! Wir konnten nicht allen helfen. Vielleicht musste ich eben akzeptieren, dass es dort draußen jeden Tag Tote gab. Ich kannte sie nicht. Sie waren nicht unser direktes Problem. Vielleicht einfach alles abhaken, dachte ich.
Bis ich endlich wieder aufwachte.

An einem Freitagmittag saß er mir plötzlich ganz selbstverständlich am gleichen Tisch gegenüber, mein syrischer Freund, blasser und dünner denn je, aber mit einem ehrlichen Lächeln.
„Hi, wie geht’s? Wie geht’s deiner Familie?!“ Sitten machen die Moderne schön.
Wieder einmal fühlte ich mich dumm. Dachte so rational, resignierte, sah nur Probleme.
Und dann tauchte plötzlich er mit seinem Teller vor mir auf, so lebendig, so lächelnd, so jung. Und ich wusste, ich kann es nicht! Ganz egal, gegen alle Realitäten. Ich kann keinen Grenzschluss fordern. Weil ich ihn getroffen habe. Es tut mir leid.
Er hätte tot sein können. Er wäre tot, wenn nicht irgendein namenloser Freiwilliger ihm sein beschissenes Leben mit ein bisschen Trinkwasser gerettet hätte. Wenn er nicht vor dem Terror davongelaufen wäre. Wenn nicht… Da saß er vor mir, ein Mensch, so vielfältig wie tausend andere. Wie könnte er für unsere Politik sterben dürfen? Nein, ich kann das nicht! Und er soll sich nicht rechtfertigen müssen, ein ‚Flüchtling‘ zu sein, denn das Recht auf Leben gilt für alle!
Immer wieder spukte auch die Blume in meinem Kopf herum. Wir konnten ihr nicht helfen, nach Deutschland zu kommen. Nicht ansatzweise! Viel hatte ich gegoogelt, erfragt, gelesen. Legaler Weg – kaum eine glaubhafte Chance.

Fortsetzung folgt
(Den 4. Teil finden Sie hier…)

• Teil 1 (16.10.2016)
• Teil 2 (23.10.2016)

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