„Das soll nie wieder passieren“ – Wissenschaftlerin bringt neue grausame Wahrheiten über Medikamententests an Heimkindern ans Licht

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BERLIN. Schläge, sexueller Missbrauch, seelische Gewalt. Man dachte, alles zu wissen über das Leben und Leiden von Heimkindern in der Nachkriegszeit. Mit den Medikamentenversuchen tut sich nun ein neuer Abgrund auf.

Ralf Aust erinnert sich noch daran, dass es Probleme in der Schule gab. Mit elf Jahren kam er dann nach Essen ins Heim. Die Eltern durften ihn zwei Stunden im Monat sehen. Über 50 Jahre später schwingen bei dem 63-Jährigen Wut und Verbitterung mit. Er hat viel geweint damals – geweint und gebrüllt, wie viele andere Kinder auch.

«Nach dem Mittagessen mussten wir uns hintereinander aufstellen, die Hand aufhalten und bekamen eine Tablette. Die mussten wir schlucken und hinterher den Mund aufmachen und zeigen, dass sie weg ist.» Bei Kindern, die sich weigerten, habe die Schwester mit ihrem Finger nachgeholfen, bis in den Rachen. Anschließend war Ruhe. Mit dem Kopf auf verschränkten Armen auf dem Tisch seien sie eingeschlafen. Ob er im Essener Franz Sales Haus Versuchsobjekt von Medikamententests war – er weiß es nicht.

Kinder in einem Heim 1948. Foto: Hans Lachmann / Deutsches Bundesarchiv / Wikimedia Commons
Kinder in einem Heim 1948. Foto: Hans Lachmann / Deutsches Bundesarchiv / Wikimedia Commons

Die Arzneimittelforscherin Sylvia Wagner hatte mit der Veröffentlichung von ersten Ergebnissen ihrer Studie zu Medikamententests am Heimkindern in den 50er und 60er Jahren ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Schläge, Drangsalierungen, sexueller Missbrauch – eigentlich hätte man nach der historischen Aufarbeitung durch den Runden Tisch Heimerziehung 2010 annehmen können, das Schlimmste zu wissen.

Wagner hat nach eigenen Angaben Belege für bundesweit rund 50 Versuchsreihen an Heimkindern gefunden. Sie geht davon aus, dass wahrscheinlich Tausende Säuglinge, Kinder und Jugendliche als Versuchsobjekte für bis dahin unerprobte Medikamente herhalten mussten – etwa wie 1960 die 139 Säuglinge, Kinder und Jugendliche im Westberliner Elisabethstift für einen Impfstoff gegen Kinderlähmung. Oder für Tests mit Medikamenten, die den Sexualtrieb hemmten, und mit Psychopharmaka wie dem beruhigenden Decentan.

Allein mit Decentan hatte es laut Wagner Tests in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bayern, gegeben. Für sie ist das alles nur die Spitze des Eisbergs. «Ich stoße auf immer neue Studien für Medikamententests. Denen kann ich gar nicht alle nachgehen», sagt die Wissenschaftlerin. Sie ist erstaunt, wie offen in Fachzeitschriften vor allem über Impfversuche an Heimkindern berichtet wurde.

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Für Pädagogik-Professor Christian Schrapper zeigen sich darin Auswirkungen der Nazi-Zeit. In den «Fürsorgeanstalten» der 50er und 60er Jahre habe man den Geist nationalsozialistisch geprägter Vorstellungen über Minderwertigkeit wiedergefunden. Daraus ergebe sich das Verständnis von Heimkindern als «Menschenmaterial, was für medizinische Versuche genutzt werden kann».

Laut Arzneimittelforscherin Wagner gab es in den 50er und 60er Jahren für die Durchführung von Pharmastudien in Westdeutschland keine rechtsverbindlichen und sanktionierbaren Vorschriften. Bis zur Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes 1978 wurden demnach Studien zum Nachweis der Sicherheit von Firmen nur in eigenem Interesse durchgeführt.

Der Pharmakonzern Merck hatte bei Bekanntwerden von Wagners Studie mitgeteilt, man habe damals unterschiedlichsten Einrichtungen die Testung des Neuroleptikum Decentan ermöglicht. Die Verantwortung liege bei dem Arzt, der das Medikament verabreicht habe. Der Konzern mit Sitz in Darmstadt hatte die Wissenschaftlerin in sein Archiv gelassen, wo sie die bisher einzigen 28 Nachnamen von Versuchskinder im Essener Franz Sales Haus fand. Trotzdem hat das Haus bisher nur einen ausfindig machen können.

Ralf Aust hat nach seiner Entlassung aus dem Heim ein normales Leben gelebt, sagt er. Mit den Berichten über die Studie holen ihn die Ereignisse von damals wieder ein. «Das soll nie wieder passieren», sagt er. Darum erzählt er in aller Öffentlichkeit von sich. Elke Silberer, dpa

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