GOSLAR. Überforderte Schüler, zu wenig ausgebildete Förderlehrer, fehlende Infrastruktur an den Gymnasien: Der Philologenverband fürchtet, dass die Inklusion «vor die Wand fährt». Daneben steht eine Grundsatzfrage im Raum: Macht es überhaupt Sinn, lernschwache Schüler auf eine Schulform zu bringen, die zum Abitur führen soll? Zweifel daran sind in der Tat berechtigt.
Der Philologenverband Niedersachsen steht der Inklusion an Gymnasien skeptisch gegenüber. Gegenwärtig gebe es weder ausreichend qualifiziertes Personal noch die nötige Infrastruktur, um Förderschüler an Gymnasien bestmöglich zu unterrichten, sagte der Landesvorsitzende Horst Audritz der Deutschen Presse-Agentur. Es sei zu befürchten, dass die Inklusion, wie sie von der rot-grünen Landesregierung gegenwärtig betrieben werde, «vor die Wand fährt», sagte Audritz vor dem Philologentag 2016, der am Mittwoch in Goslar beginnt.
Sein Verband halte es für problematisch, dass die Förderschulen für geistige Entwicklung aufgelöst werden und Eltern jetzt auch Kinder am Gymnasium anmelden dürfen, die aufgrund fehlender Voraussetzungen das Abitur gar nicht erreichen können. «Es muss möglich sein, die Schülerinnen und Schüler zum angestrebten Abschlussziel zu führen, bei uns also zum Abitur.»
Der Philologenverband sei nicht grundsätzlich gegen Inklusion, sondern befürworte, dass alle Kinder, die in der Lage seien, das das Abitur zu erwerben, auch ans Gymnasium kommen können, sagte Audritz. «Das Problem sind aber die Schüler, die nur da sitzen und speziell betreut werden müssen, im Unterricht aber gar nicht mitmachen können.» An das Wohl dieser Kinder werde bei der Inklusion nicht gedacht, sagte der Philologen-Chef. «Dabei sollte das Wohl der Kinder im Mittelpunkt stehen.» Audritz sprach sich dafür aus, Schülern, «die dort besser gefördert werden können, die Förderschulen zu erhalten».
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Die rund 350 Delegierten des Philologentages werden sich außer mit dem Thema Inklusion auch mit dem «Abbau überflüssiger bürokratischer und außerunterrichtlicher Belastungen» und der «Angleichung der Lehrerarbeitszeit an die gesetzlich festgelegte Arbeitszeit der niedersächsischen Beamten» befassen. Diese beträgt 40 Stunden pro Woche. Der Philologenverband geht davon aus, dass Gymnasiallehrer auch unter Einbeziehung der Ferienzeiten auf durchschnittlich mindestens 43 Wochenstunden kommen.
In diesem Zusammenhang warf Audritz Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt eine «Verletzung der Fürsorgepflicht» vor. Die SPD-Politikerin kümmere sich nicht um die dringend erforderliche Reduzierung der überlangen Arbeitszeit der Gymnasiallehrer und die Abschaffung überflüssiger Aufgaben.
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) habe beim Philologentag 2015 versprochen, die Lehrkräfte von derartigen Aufgaben zu entlasten, sagte Audritz. «Doch passiert ist fast nichts.» Stattdessen kämen zu den zeitraubenden Verwaltungsaufgaben im Rahmen der «eigenverantwortlichen Schule», der Schulinspektion, der ständigen Entwicklung von Schul-Konzepten und -Programmen immer weitere «unterrichtsfremde Aufgaben» hinzu. Audritz nannte als Beispiele die Beratung von Eltern und die Berufsorientierung.
Weil Lehrer zunehmend mit derartigen Aufgaben belastet seien, fehle es am Ende an Kapazität für das eigentlich Wichtige in der Schule, nämlich den Unterricht. Es sei kein Wunder, dass die Unterrichtsversorgung immer schlechter werde. Audritz forderte, Bürokratie abzubauen «und die Lehrkräfte unterrichten lassen».
Dem Philologenverband gehören rund 8000 Lehrkräfte an, die vorwiegend an den etwa 260 staatlichen und privaten Gymnasien in Niedersachsen unterrichten. Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa

