Bildungsrevolution in Finnland: Weg vom klassischen Fachunterricht, hin zum „Phänomen-Unterricht“

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HELSINKI. „Finnland schafft die Schulfächer ab.“ Diese Schlagzeile hat die Bildungswelt in der vergangenen Woche fasziniert. Obwohl sie so nicht ganz richtig ist, arbeitet das skandinavische Land mit seiner neuesten Schulreform ohne Frage weiter an der Revolution des Bildungssystems – weg vom klassischen Fachunterricht, hin zum „Phänomen-Unterricht“.

Beim "Phänomenunterricht" sind der Kreativität der Schüler keine Grenzen gesetzt. Foto: Jordanhill School D&T Dept / flickr (CC BY 2.0)
Beim „Phänomenunterricht“ sind der Kreativität der Schüler keine Grenzen gesetzt. Foto: Jordanhill School D&T Dept / flickr (CC BY 2.0)

PBL lautet die Neuerung über die in den Medien schon viel diskutiert wurde, „Phenomenon-Based Learning“. Dieser „Phänomen-Unterricht“ ist seit Beginn des Schuljahres 2016/2017 Pflicht für alle Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen sieben und 16 Jahren, wie die ARD berichtet. Ziel ist es nicht, alle Schulfächer komplett abzuschaffen, sondern durch das PBL eine Ergänzung zum bisherigen Lehrplan einzuführen, darauf hat das Bildungsministerium in einer Pressemitteilung erneut hingewiesen.

Irmeli Halinen, die das Team zur Lehrplanentwicklung am Finnische Amt für Bildung leitet, hat nach den missverständlichen Schlagzeilen in mehreren europäischen Ländern in einem Blogeintrag die neueste Schulreform noch einmal vorgestellt. Die Reform sieht vor, dass alle Bildungseinrichtungen für alle Schüler pro Jahr ein Fach anbieten, in dem der Unterricht mehr auf Ereignissen und Interessen basiert. Die Schüler sollen die generelle Gestaltung des Fachs, wie das Thema und eventuelle Projekte mit den Lehrkräften selbst entscheiden und von Beginn an mitgestalten. Durch den „Phänomenunterricht“ solle Schülern geholfen werden, „mehr Eigenständigkeit beim Lernen und im Schulalltag zu entwickeln“. Zudem solle die Freude am Lernen gesteigert werden. Jedoch spielten Schulfächer weiterhin eine wichtige Rolle im Lehren und Lernen, so Halinen, weshalb es die traditionellen Fächer weiter geben werde: „Allerdings mit weniger strikten Grenzen und mehr Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fächern.“


Fächerübergreifendes Unterrichten

Durch die Schulreform wird also der fächerübergreifende Unterricht deutlich erweitert und mehr auf eine projektorientierte Basis gestellt. „Die Welt um uns verändert sich und ich denke, dass diese Veränderungen auch das Leben und das Lernumfeld der Schüler betreffen“ sagte Eija Kauppinen von der nationalen Schulentwicklungsbehörde zur Begründung. „Wir müssen also darüber nachdenken, welches Wissen und welche Fähigkeiten sie in Zukunft benötigen.“

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Es geht im Phänomenunterricht daher mehr darum, Zusammenhänge zu erkennen, anstatt nur Einzelaspekte zu betrachten – weg vom bruchstückhaften Wissen, hin zum Erlernen ganzheitlicher Vorgänge. Ein Beispiel wäre der Zweite Weltkrieg, der sowohl aus einer geschichtlichen, aus einem geografischen oder auch aus einem mathematischen Blickwinkel betrachtet werden kann. Weitere Themen könnten die Europäische Union, der Klimawandel oder Flüchtlingsbewegungen sein. Diese Themen werden dann nach dem PBL-Modell künftig interdisziplinär unterrichtet. Zudem ist es entscheidend, dass Schüler in diesen Phasen mitentscheiden dürfen, was und wie sie lernen möchten. Das Grundlagenwissen der klassischen Fächer wird jedoch außerhalb dieser Projektzeiten weiterhin ganz normal vermittelt.

PBL im Lehrplan

Wie Tagesschau.de berichtet soll der „Phänomen-Unterricht“ nach dem Willen der Reformer spätestens in vier Jahren an allen finnischen Schulen angeboten werden – also bis zum Jahr 2020. Bei der Gestaltung des PBL haben die einzelnen Schulen große Freiheiten in der Gestaltung und der Integration in ihre Lehrpläne. Sie entscheiden selbst, welchen Umfang sie solchen Projekten einräumen möchten.

Insgesamt sollen nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer von der Reform profitieren. Wie Spiegel Online berichtet, werden auch sie in Zukunft viel stärker als bisher fächerübergreifend mit Kollegen zusammenarbeiten. Zwei Drittel der Lehrer in Helsinki seien dafür bereits geschult worden – und erhalten, wenn sie im neuen System arbeiten, dafür einen Lohnzuschlag.

Finnland als Vorreiter

Finnlands Schulsystem gilt seit langem als eines der innovativsten der Welt. Kinder müssen beispielsweise nicht in die Schule, bevor sie sieben Jahre alt sind, es gibt kaum Hausaufgaben und die Sommerferien dauern bis zu elf Wochen. Auch in den Bereich des fächerübergreifenden Lernens investiert die Politik dort schon seit längerer Zeit. Gleichzeitig schneidet Finnland in internationalen Schulvergleichtests seit Jahren überdurchschnittlich gut ab. Bei der PISA-Studie ist das Land immer unter den ersten zehn zu finden. Auch deshalb beobachten andere westliche Länder Erneuerungen im finnischen Bildungssystem mit besonderem Interesse – könnte es doch für sie ein Blick in die Zukunft sein. N4t

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U. B.
7 Jahre zuvor

Dann ist ja zu erwarten, dass der Zug der Lemminge bald dem Vorreiter folgt, der bei internationalen Tests gar nicht mehr so gut (wie im Artikel behauptet) abschneidet wie beim ersten Pisa-Test, als seine Erfolge noch auf dem „altmodischen“ Frontalunterricht beruhten.
Ich sehe schon, wie toll das läuft und wohin das führt, wenn jedes Kind nach Lust und Laune sein eigenes Ding im fächerübergreifenden Unterricht macht.

GriasDi
7 Jahre zuvor

Ich würde sagen: Aus der Ferne beobachten und erst dann, wenn sich gezeigt hat, ob ein solcher Unterricht besser funktioniert als der herkömmliche, nachmachen.

xxx
7 Jahre zuvor

Als Ergänzung zu den klassischen Fächern halte ich PBL für wunderbar. In NRW wird das teilweise schon im Wahlpflichtbereich angeboten, wenn auch häufig naturwissenschaftlich geprägt. An den Haupt-, Real- und teilweise Gesamtschulen gibt es den Fächerverbund „Gesellschaftslehre“ bzw. „Naturwissenschaft-Technik“, in anderen Bundesländern auch „Mensch-Natur-Technik“ oder „Mensch-Natur-Gesellschaft“ oder so ähnlich. So richtig neu ist die Idee also nicht. Über die Eigenständigkeit kann man streiten, über den Mehrwert nachdem eine Evaluation stattgefunden hat, was in frühestens 6-10 Jahren erst sinnvoll ist, wenn nämlich alle finnischen Schulen mehrere Durchläufe des PBL hinter sich haben.

dickebank
7 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Widerspruch – es gibt an NRW-GeS drei Lernbereiche, nämlich Arbeitslehre (AL), Gesellschaftswissenschaften und Naturwissenschaften (NW). Ein Fächerverbund AL/NW existiert nicht.
Innerhalb der genannten Lernbereiche können die Fächer im Klassenverband integrativ oder aber auch ganz klassisch fachspezifisch unterrichtet werden. Im Wahlpflichtbereich sieht das allerdings anders aus. Das Wahlpflichtfach NW wird fächerintegrativ unterrichtet. Im Wahlpflichtfach AL gibt es einen hauswirtschaftlich/wirtschaftlich und einen technisch/wirtschaftlichen Schwerpunkt.
Das Fach NW wird im Regelfall lediglich im Doppeljahrgang 5/6 integrativ im Klassenverband unterrichtet, Ab Klasse 7 werden die Naturwissenschaften fachspezifisch unterrichtet, da ab Klasse 9 entweder Physik oder Chemie auf erweitertem (E-Ebene) oder basalen (G-Ebene) Kompetenzniveau angeboten wird.

U. B.
7 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Glauben Sie, Finnland würde nur ergänzend nachgeeifert? Was dieses Land in der Bildungspolitik macht, wird doch blindlings und voller Enthusiasmus kopiert.
Hauptsache es heißt, man habe dasselbe gemacht wie das „erfolgreiche“ Finnland, das noch immer von seinem einstigen, aber schon lange zurückliegenden Pisa-Sieg im Ansehen profitiert.

alexander
7 Jahre zuvor

… na endlich ist mal wieder eine Sau gefunden, die die Kultusbürokratie in den nächsten Jahren durchs Dorf treiben kann. Man darf auf die Umsetzung dieser Idee in deutschen Amtsblättern gespannt sein…

mississippi
7 Jahre zuvor

Der neue Bildungsplan in BaWü geht jetzt von MNK (Mensch-Natur-Kultur) wieder zurück zu Sachunterricht, Kunst, Musik und Werken.

U. B.
7 Jahre zuvor
Antwortet  mississippi

Warum wird das wohl gemacht? Landesregierungen machen ungern „Rückschritte“, weil das vorausgegangenen Irrtum und eine falsche Reform signalisiert.
Kompliment an die Landesregierung ob ihres Eingeständnisses und ihres Muts zum Rückwärtsgang!
Meist werden schlechte Reformen bis zum Geht-nicht-Mehr verteidigt und schöngeredet. Bloß keine Irrtümer eingestehen!

Pälzer
7 Jahre zuvor

Die letzten Sätze des Artikels erstaunen mich, ich erinnere gegenteilige Meldungen von internationalen Vergleichen, dass nämlich Finnland abgestürzt sei. Aber Erinnerung kann trügen. Könnte N4T bitte Quellen nennen?

Carsten60
3 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

@ Pälzer: Quelle (im Sinne Ihrer Aussage) ist der nationale Langbericht zu PISA 2018. Dort findet sich auf Seite 150 eine Tabelle 6.6 zur Lesekompetenz im internationalen Vergleich, und zwar aufgeschlüsselt nach Migranten und Nicht-Migranten. Danach beträgt die Differenz der Mittelwerte zwischen den Nicht-Migranten und den Migranten der ersten Generation:
119 in Deutschland
116 in Schweden
109 in Finnland
Die entsprechende Differenz zwischen Nicht-Migranten und Migranten der zweiten Generation ist:
47 in Deutschland
54 in Schweden
71 in Finnland.
Das sieht nicht danach aus, als ob die „skandinavischen PISA-Sieger“ ausgerechnet in diesem Bereich punkten können, der doch immer speziell Deutschland negativ angekreidet wird („zuwanderungsbedingte Disparitäten“). Der Unterschied der Mittelwerte zwischen Finnland und Deutschland beträgt bei den Nicht-Migranten nur 5 Punkte, das gilt nicht als signifikant. Und das beim Lesen, einer Domäne, bei der die Skandinavier traditionell gut sind, weil dort Spielfilme immer im Original mit Untertiteln zu sehen sind. Bei PISA 2015 war das schon ähnlich.
FAZIT: Der Mythos von Finnland als pädagogischem Wunderland ist zerplatzt wie eine Spekulationsblase. Er lebt nur noch als liebgewordene Illusion weiter in manchen Köpfen.

GriasDi
7 Jahre zuvor

Gewinnt man nicht häufig erst Erkenntnis, wenn man alles Überflüssige beiseite lässt und zum Kern des Problems vor stößt? Ist es nicht eine Kulturleistung die einzelnen Fächer herausdestilliert zu haben? Naja – wir werden es eher früher als später sehen.
Finnland schafft ja auch die Handschrift ab und lässt nur noch mit Laptops arbeiten. In China hat sich gezeigt, das durch das frühzeitige Ersetzen der Handschrift durch Laptop-Tippen die Lesefähigkeit reduziert wurde. Aber wir werden es trotzdem nachmachen.