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Übergriffe durch (männliche) Lehrer: Passiert im Graubereich mehr, als wir ahnen? Junge Frauen klagen öffentlich an

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BERLIN. Immer öfter berichten Schülerinnen in Videos auf Youtube von (männlichen) Lehrkräften, die sie verbal oder körperlich bedrängen. Sind das bloß Einzelfälle? Zumindest im Graubereich allzu lockerer Sprüche und vermeintlich freundschaftlicher Berührungen scheint in der Schule mehr zu passieren, als bislang bekannt ist. Womöglich ist das ein Anlass für eine schulische Debatte zum schmalen Grat zwischen pädagogischer Nähe und gebotener Distanz: Wo hört der Spaß auf – und wo fangen Übergriffe an?

„Schulen stehen nicht unter Generalverdacht, aber Schulen können gefährliche Orte sein“, sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, unlängst bei der Vorstellung einer Kampagne zum Thema. Heißt: In Schulen finden sexuelle Übergriffe durch Lehrkräfte statt. Tatsächlich werden immer wieder Verfahren bekannt, in denen Lehrer wegen Missbrauchs verurteilt werden. Wer auf News4teachers in die Suchmaske das Stichwort “Missbrauch” eingibt, stößt auf Dutzende solcher Fälle aus den vergangenen fünf Jahren.

Aber sind das nicht nur äußerst seltene Einzelfälle? Eine aktuelle Häufung von Berichten betroffener junger Frauen, veröffentlicht auf der Plattform youtube, legt allerdings den Eindruck nahe, dass im Graubereich zweifelhaften Verhaltens (zu) viele Grenzverletzungen tagtäglich in deutschen Schulen stattfinden. Warum ist davon so selten die Rede? Lehrer hätten oft Angst, Kollegen falsch zu beschuldigen, meint Rörig.

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Eine junge Frau mit dem Pseudonym „Saftiges Gnu“ berichtet von einem Lehrer, der sie körperlich bedrängt hat. Angeblich habe es in jeder Klasse eine Schülerin gegeben, die er „angemacht“ habe, „und in unserer Klasse war das leider ich“. Kurz vor dem Schulabschluss sei er nach einer Unterrichtsstunde zu ihr gekommen und habe anzüglich gefragt: „Du bleibst mir doch noch länger treu?“. In einer anderen Situation an den Schülerspinden sei er ihr mit seinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter nahegekommen und habe sie gegen den Schrank gedrückt – eine Freundin habe die Szene fotografiert.

Nach einer der letzten Unterrichtsstunden habe sich dann die Situation ergeben, dass sie sich plötzlich allein mit ihm im Klassenraum befunden habe. „Er kam um den Tisch herum zu mir, hat den Arm um mich gelegt und gefragt: Wollen wir vielleicht Kontakt halten?“ Sie habe erschrocken gesagt: eine Affäre „mache ich nicht“. Woraufhin er geantwortet habe: „Ist doch nichts dabei.“ Sie sei unter Schock aus dem Zimmer gelaufen – und habe sich einer Lehrerin anvertraut, die sich ihr annahm. Tatsächlich sei die Schulleitung informiert worden, der Fall sei aufgerollt worden und der Lehrer habe wohl eine Abmahnung bekommen. Er unterrichte aber weiter an der Schule. Fazit der jungen Frau: Sich zu offenbaren, habe „nichts gebracht“.

Betroffene senden Signale

Oft stehe die Schulleitung nicht hinter konsequenter Aufklärung und Vorbeugung, sagt Catharina Beuster, die selbst als Schülerin Opfer von sexueller Gewalt durch einen Lehrer wurde, und sich heute im Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten engagiert. Sie meint, schon kleine Schritte, schon etwas mehr Aufmerksamkeit ihrer Umgebung hätten ihr als Schülerin helfen können. Alle Betroffenen würden solche Signale aussenden, sagt Catharina Beuster. Bis heute sei sie erschüttert über die „stumme Hilflosigkeit“ ihrer Umgebung. „Wenn eine Schülerin im Sommer mit Rollkragenpullover in die Schule kommt, macht sie das vielleicht auch, um Knutschflecke zu verdecken“, sagt Beuster. Leide eine Schülerin im Unterricht unter Konzentrationsmangel, könne das an den schlimmen Bildern von den Taten liegen, die immer wieder in ihr hochkämen.

Eine junge Bloggerin mit dem Alias-Namen „ItsColeslaw“ berichtet von einer Nachricht, die sie von einer Zuschauerin, einer Schülerin, bekommen habe, weil sie sich von ihrem Sportlehrer bedrängt fühle. Im Unterricht lande dessen Hand immer wieder auf ihrem Hintern, und sie habe das Gefühl: Das sei kein Zufall. Was könne sie dagegen tun? „ItsColeslaw“ erinnert sich an einen ähnlichen Fall aus dem eigenen Schwimmunterricht – an einen Sportlehrer, der eine Mitschülerin aufgefordert habe, sich auf den Bauch zu legen. Um dann von hinten ihre Beine in Schwimmbewegungen zu führen. „Das war eine seltsame Situation“, meint die junge Frau. Sie rät ihrer Zuschauerin: Erst mit Mitschülern zu sprechen und Zeugen zu suchen – um sich dann Erwachsenen, etwa einem Vertrauenslehrer oder der Schulleitung, anzuvertrauen.

Blogger „JulianVlogt“ berichtet von einer Mail, die er von einer jugendlichen Zuschauerin bekommen habe. Darin frage sie, was sie gegen ihren Mathe-Lehrer unternehmen könne, der „richtig pädophile Sprüche“ im Unterricht ablasse – und, “das Schlimmste”, sie und ihre Freundin immer wieder anfasse. Sie und ihre Freundin seien im Gegensatz zu den meisten Klassenkameradinnen bereits recht weiblich entwickelt, was den Pädagogen zu reizen scheine: Immer wieder suche er „wie aus Versehen“ Körperkontakt zu den Mädchen.

Aktuelle Studien, die das Ausmaß von möglichen Grenzverletzungen durch Lehrkräfte deutlich machen, gibt es nicht. In einer Studie der Universität Bremen von 2003 wurden mehr als 4.000 Jugendliche befragt – und 4,3 Prozent von ihnen gaben an, mit Worten schon mal von mindestens einer Lehrkraft sexuell belästigt worden zu sein. 3,3 Prozent berichteten sogar von „körperlich-sexuellen“ Übergriffen durch Lehrkräfte. „Schülerinnen und Schüler reagierten auf diese Übergriffe mit Leistungsabfall, Schulvermeidung oder Schulwechsel“, so hieß es in der Studie. „Ebenso wurden Auswirkungen auf das Schulklima und die Lernatmosphäre in den Klassen festgestellt.“

„Mein perverser Sportlehrer“: Unter dieser Überschrift berichtet eine 18-jährige mit dem Pseudonym „Ambre Vallet“ von einem Pädagogen, der an der Schule als „komisch“ galt, weil er Mädchen bevorzuge – und im Unterricht fotografiere. Sie habe das allerdings nicht geglaubt, bis sie selbst Zeugin einer solchen Szene geworden sei: bei einem Stationentraining, bei dem quer durch die Halle verschiedene Übungen zu absolvieren gewesen seien. Bei einer dieser Übungen, bei der die Schüler aus einer Bauchlage heraus den Po nach oben recken sollten, habe der Mann tatsächlich Schülerinnen mit seinem Handy von hinten gefilmt oder fotografiert. Sie selbst sei von ihm auch begafft worden – bei einer Übung, bei der sie aus der Rückenlage heraus sich mit dem Po nach oben habe strecken müssen, habe er sich zwischen ihre gespreizten Beine gestellt und zu ihr gesagt: „Schön langsam“.

„Das war mega-unangenehm“, meint die junge Frau, sagt aber auch: „Es kann schnell passieren, dass man sich was einbildet.“ Gleichwohl seien sie und Mitschülerinnen zur Schulleiterin gegangen, um sich zu beschweren – um dort angeblich zu erfahren, dass solche Vorwürfe gegen den Lehrer bekannt seien. Tatsächlich habe der dann in der Folge nicht mehr allein unterrichten dürfen. Die Schulleiterin habe sie und die anderen Schülerinnen allerdings auch gefragt, welche Kleidung sie denn im Unterricht getragen hätten – eine Frechheit, so meint die Bloggerin: „Sind wir jetzt daran schuld, oder was?“ Agentur für Bildungsjournalismus

Zum Bericht: Sexueller Missbrauch: Bundesbeauftragter betont, Schulen können „gefährliche Orte“ sein

 

Hintergrund: Kinderschutz in der Schule

Die Bezirksregierung Düsseldorf hat 2011 einen Leitfaden zum  Thema „Kinderschutz in der Schule“ herausgegeben. Dort heißt es in dem Abschnitt „Verdacht gegen in der Schule tätige Personen“ unter anderem:

„In allen folgenden Fällen, in denen eine Lehrkraft selbst oder ein anderer in der Schule Tätiger unter Verdacht steht, gilt die Verpflichtung, die Schulleitung zu informieren. Die Schulleitung selbst ist immer verpflichtet, die Schulaufsicht über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen (Beratungspflicht).“

„Lehrkräfte müssen in den Gesprächen mit dem Kind eindeutig zum Ausdruck bringen, dass sie keine Geheimnisträger sind, sondern andere Stellen informieren müssen, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und/ oder bei Verdacht gegen Personen in der Schule. Falls das Kind dann nicht reden möchte, sollten ihm Angebote benannt werden, wo es anonyme Beratung außerhalb der Schule erfahren kann. Auch in diesem Fall ist die Schulaufsicht zu informieren.“

„Wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht gegen Personen in der Schule begründen, muss zum Schutz aller Beteiligten bis zur Klärung für die größtmögliche Distanz zwischen den Betroffenen gesorgt werden. Es sollte beim Gespräch darauf geachtet werden, suggestive Fragen zu vermeiden.  Zur Stärkung der Beweiskraft der Aussage sollten möglichst offene Fragen gestellt werden. Dazu zählt auch eine frühest mögliche Dokumentation des Gesprächs und aller anderen Vorgänge.“

Hier geht es zur Broschüre der Bezirksregierung Düsseldorf. 

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