WIESBADEN. Zum kommenden Schuljahr wird die Wolfram-von-Eschenbach-Schule in Wiesbaden eine Mittelstufenschule. Nach dem neuen hessischen Schulgesetz ist die reine Hauptschule damit abgeschafft.
Lernsituation: «In der Krankenhausküche sollen 1000 Patienten bekocht werden. Stelle ein Menü zusammen und berechne die maximalen Kosten der Zutaten im Wareneinkauf.» Berufs- und praxisorientierte Aufgaben wie diese könnten die Schüler der neuen Mittelstufenschule Dichterviertel in Wiesbaden ab dem kommenden Schuljahr beschäftigen. Die ehemalige Wolfram-von-Eschenbach-Schule wird dann die erste und einzige Mittelstufenschule im gesamten Schulamtsbezirk Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Kreis sein. Passiert zudem die Schulgesetznovelle im Frühjahr den Landtag, ist damit auch die letzte reine Hauptschule Hessens Geschichte. Neugründungen sieht das Gesetz nicht vor.
Laut Kultusministerium gibt es derzeit noch fünf reine Hauptschulen in Hessen. Vier davon hätten allerdings zuletzt keine Schüler mehr aufgenommen. «Sie werden geschlossen, sobald der letzte Jahrgang seinen Abschluss gemacht hat», sagt ein Sprecher.
Jörg Leinberger hält diese Entwicklung für wenig verwunderlich. «Nach über 20 Jahren der Vernachlässigung konnte die Hauptschule ihrem Anspruch, einen vollwertigen Abschluss einer allgemeinbildenden Schule zu liefern, nicht mehr gerecht werden», sagt der Landesvorsitzende des Lehrerverbandes Hessen. Die stärkere Berufsorientierung der Mittelstufenschulen hält er jedoch nicht für den optimalen Weg. «Die Kinder müssen die Grundlagen beherrschen lernen, dann entsteht auch wieder Vertrauen ins Bildungssystem», erklärt er, «gerade auch bei solchen Schülern, die kein Abitur machen.»
Schüler einer Mittelstufenschule werden von Klasse fünf bis sieben gemeinsam unterrichtet. Egal, mit welcher Empfehlung sie aus der Grundschule kommen. Nach Angaben des Kultusministeriums findet der Unterricht in Kernfächern und fächerübergreifenden Lernbereichen statt. Ab Klasse acht haben die Jugendlichen die Wahl zwischen dem praxisorientierten Bildungsgang, der mit dem Hauptschulabschluss endet und dem mittleren Bildungsgang mit Realschulabschluss. Anschließend ist der Wechsel aufs Gymnasium oder die Fachoberschule möglich. Für welchen Weg sich die Schüler auch entscheiden, sie verbringen einen Tag pro Woche an der Berufsschule. Hier lernen sie verschiedene Berufszweige wie Wirtschaft, Technik, Gesundheit und Sozialwesen kennen.
Der Clou des Mittelstufenkonzepts: Die Berufsorientierung durchzieht ab Klasse fünf den gesamten Unterricht. Während es also etwa mittwochs im Mathe-Unterricht darum geht, die Kosten für das Krankenhaus-Kantinenessen korrekt zu berechnen, ist freitags an der Berufsschule die gesunde Zusammensetzung der Speisen Thema.
In Wiesbaden erhofft man sich von dem neuen Konzept ein besseres Lernklima. «Wir wollten schon vor vier Jahren umstellen», berichtet Stephan Schloter, Leiter der Wolfram-von-Eschenbach-Schule. Das sei jedoch damals für eine reine Hauptschule gesetzlich nicht vorgesehen gewesen. «Wir wurden immer mehr zum Restebecken für diejenigen, die die Realschule nicht schafften», sagt der Rektor. Nur noch selten schickten Eltern ihre Kinder freiwillig. Die Kollegen seien «am Limit» gewesen.
Nach etlichen Gesprächen stimmte Mitte November vergangenen Jahres die Stadtverordnetenversammlung der Umstellung doch noch zu. Jetzt muss es schnell gehen, Grundschulen, Lehrer und Eltern wollen über die neue Schulform informiert, weitere Lehrer eingestellt und die Kollegen auf das Programm vorbereitet werden. Mit drei fünften Klassen zu je 25 Schülern soll es idealerweise losgehen.
19 Mittelstufenschulen zählt das Kultusministerium in Hessen, die erste existiert bereits seit 2009 in Marburg. Auch an der Solgrabenschule in Bad Nauheim (Wetteraukreis) hat man die Umstellung schon erfolgreich gemeistert. Bis zum Sommer 2013 war sie eine Haupt- und Realschule. «Wir hatten aber kaum noch Hauptschüler und mussten schon Kombiklassen einrichten», erzählt Schulleiter Jörg Mathes. Er berät die Wiesbadener Kollegen und hilft ihnen, die ersten Kinderkrankheiten zu umschiffen. In seiner Schule ging das Konzept voll auf: «Unsere Schülerzahlen haben sich in den drei Jahren um 150 erhöht», sagt Mathes. Auch das Einzugsgebiet habe sich vergrößert, Eltern meldeten jetzt ihr Kind gezielt an der Solgrabenschule an. Bernadette Winter/dpa