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Milliardenmarkt Nachhilfe: Vom privaten Förderunterricht profitieren vor allem Kinder aus wohlhabenden Familien – Arme bleiben außen vor

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DÜSSELDORF. Seit einiger Zeit erlebt kommerzielle Nachhilfe einen Boom, zuletzt befeuert durch den PISA-Schock. Mit dem Privatunterricht abseits staatlicher Aufsicht werden in Deutschland Milliarden umgesetzt – er kommt vor allem Kindern zugute, deren Eltern die zum Teil erheblichen Kosten problemlos übernehmen können. So tragen die außerschulischen Förderstunden dazu bei, die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem zu verstärken. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderte Überblicksstudie.

Nachhilfe ist teuer und nciht für jede Familie erschwinglich. Foto: Tyrone Daryl / flickr (CC BY 2.0)

Obwohl der Schulerfolg in Deutschland ohnehin schon stark mit der sozialen Herkunft korreliert, bekommen Kinder höherer Schichten auch noch die meiste Nachhilfe – deren Angehörige häufig von Abstiegsängsten geplagt sind, die sie auf ihren Nachwuchs projizieren. Das zeigt die Untersuchung der Bildungsforscher Prof. Klaus Birkelbach und Prof. Rolf Dobischat von der Universität Duisburg-Essen sowie Birte Dobischat. Die Wissenschaftler haben eine Vielzahl von Forschungsstudien ausgewertet und zudem Nachhilfeinstitute befragt. Diese von einem Forscherteam der Universität Duisburg-Essen durchgeführte Befragung, an der sich fast 400 Nachhilfeinstitute beteiligten, ist die erste ihrer Art. Sie ist nicht repräsentativ, liefert aber wichtige Orientierungsdaten.

Wie viele Kinder gehen zu kommerziellen Instituten wie Studienkreis oder Kumon oder zur Abiturientin aus der Nachbarschaft, weil sie sich mit Hausaufgaben und Klausuren schwertun oder die Eltern nicht mit den Noten zufrieden sind? Eine offizielle Nachhilfestatistik gibt es nicht. Sicher ist dennoch: Seit den 1970er-Jahren hat die Zahl zugenommen. Je nach Studie und Art der Abgrenzung schwanken die aktuellen Angaben zwischen 6 und 27 Prozent aller Schüler. Bei den 15-Jährigen – in dieser Altersklasse ist Nachhilfe aufgrund nachlassender Schulleistungen besonders häufig – nehmen einer neueren Untersuchung zufolge 29 Prozent private Förderstunden in Anspruch. Bei Schulanfängern ist Nachhilfe normalerweise noch kein Thema, doch bereits von den Achtjährigen bekommen 6 Prozent zusätzliche Stunden.

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Zunehmende Unzufriedenheit

Nach Schätzungen wird jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro für Nachhilfestunden ausgegeben. Die Gründe für das Wachstum des Nachhilfemarktes sehen die Bildungsforscher in zunehmender Unzufriedenheit der Eltern mit dem öffentlichen Schulsystem, gestiegenem Leistungsdruck, einem verschärften Wettbewerb um aussichtsreiche Bildungswege und in der Folge einem gestiegenen Ehrgeiz der Eltern. Letzteren geht es weniger um die Lerninhalte als um gute Zeugnisse, so die Studie. Es sind auch längst nicht mehr nur die Versetzungsgefährdeten, die zur Nachhilfe angemeldet werden, sondern immer häufiger Dreier-Kandidaten. Eingebettet sei diese Entwicklung in einen allgemeinen Trend zu „Kommerzialisierung und Privatisierung an den Rändern der Bildungslandschaft“.

Bezahlte Nachhilfestunden nehmen 13 Prozent der Kinder aus armen Elternhäusern, die weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. In der Mittelschicht sind es um die 20 Prozent. Bei Familien, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens verdienen, kümmert sich um knapp jedes dritte Kind ein Nachhilfelehrer. Mit diesen Befunden aus der AID:A-Befragung des Deutschen Jugendinstituts bestätige sich die bereits aus früheren Studien abgeleitete These, „dass kommerzielle Nachhilfe soziale Ungleichheiten tendenziell verstärkt“, so Birkelbach und Rolf und Birte Dobischat.

Höchste Statusgruppen überrepräsentiert

Ihre Befragung von Nachhilfeinstituten unterstreicht das. Die meisten Schüler – 62 Prozent – stammen nach Einschätzung der Anbieter aus der „mittleren Mittelschicht“. 26 Prozent gehören der „oberen Mittelschicht“, 2 Prozent der Oberschicht an. Die beiden höchsten Statusgruppen seien damit „deutlich überrepräsentiert“, so die Forscher, „während Kinder aus unterer Mittel- (9 Prozent) und Unterschicht (1 Prozent) „etwa im gleichen Ausmaß unterrepräsentiert sind.“ Die Möglichkeit zur Lernförderung nach dem Bildungs- und Teilhabegesetz für einkommensschwache Familien habe an der sozialen Selektivität des Nachhilfesystems offenbar nicht viel geändert. Eine Gruppe, die bei der Nachhilfe besonders deutlich zu kurz komme, seien zudem die Migranten. Das Geschlecht der Kinder und die Bildungsabschlüsse der Eltern haben den verschiedenen Analysen zufolge hingegen keinen merklichen Einfluss auf die Nachhilfewahrscheinlichkeit.

Wissenschaftler: „Schulbildung ist käuflich“ – Schulen sollten Nachhilfeanbieter integrieren

“Nachhilfeunterricht ist weitgehend entkoppelt von der Schule, die ja Mitverursacher von Nachhilfe ist”, kritisiert Dobischat gegenüber „Spiegel online“. Nur selten finde eine Kooperation zwischen der Schule und dem Nachhilfeträger statt – was Qualitätsprobleme erwarten lasse. Sinnvoll wäre es, so betont der Forscher, wenn das Lehrpersonal in beiden Institutionen stärker bei der individuellen Förderung der Schüler zusammenarbeiten würde. Oder besser noch: Wenn es gar keine private Nachhilfe mehr geben müsste. Ganztagsschulen mit genügend qualifiziertem Personal, das Lernprobleme erkennen kann und die Schüler gezielt fördert, könnten für hohe Qualitätsstandards sorgen – und stünden allen Schülern offen. Das „originär öffentliche Gut Bildung“ müsse „aus der privatwirtschaftlichen Umklammerung“ gelöst werden – damit Unterstützung für eine erfolgreiche Schullaufbahn nicht in erster Linie von Ehrgeiz und Geldbeutel der Eltern abhänge.

Laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat auch das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes nichts daran geändert, dass vor allem Kinder aus wohlhabenden Familien in den Genuss privater Nachhilfestunden kommen. Die gehören zwar auch zu den Leistungen des Pakets, werden aber nur von wenigen Prozent der anspruchsberechtigten Schüler genutzt. Das liege nach Angaben der Forscher an Informationsdefiziten der Antragssteller sowie an einem hochformalen bürokratischen Antragsverfahren. Die Leistung sei zudem an zu restriktive Bedingungen geknüpft  – nur Schüler, deren Versetzung gefährdet ist, bekämen sie genehmigt. Agentur für Bildungsjournalismus

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