DORTMUND. Sitzengeblieben! Für Zig-Tausende Kinder in Deutschland wird dieses Schicksal mit der Zeugnisausgabe besiegelt. Viele Bildungswissenschaftler halten wenig von der «Ehrenrunde». Früher helfen statt mitschleppen, fordert jetzt einer der renommiertesten Schulforscher in Deutschland, Wilfried Bos, der die großen internationalen Vergleichsstudien IGLU und TIMSS in Deutschland geleitet hat. Die GEW kritisiert die Idee als einen “Schnellschuss”.
Schwächere Schüler könnten aus Sicht des Dortmunder Bildungsforschers Prof. Wilfried Bos in den Ferien von Lehrern gefördert werden. «Man sollte darüber nachdenken, ob immer alle Lehrer sechs Wochen in die Ferien fahren müssen oder ob man nicht einigen ein Angebot macht: Du kriegst 5000 Euro extra und arbeitest mit schwächeren Schülern nach», sagte Bos der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf. «Das wäre eine wichtige pädagogische Aufgabe. Es fänden sich sicher Lehrer, die das machen würden.» Leistungsschwache Kinder ein ganzes Schuljahr wiederholen zu lassen, sei in den meisten Fällen die schlechteste Lösung.
Im vergangenen Jahr mussten zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen laut amtlicher Schulstatistik über alle Schulformen und -stufen hinweg mehr als 55.000 Betroffene ein Jahr wiederholen. Das sind 2,2 Prozent. Langfristig hat sich die Quote von 2,9 Prozent im Jahr 2007 nur sehr langsam verringert. Die Zahlen für das am Freitag auslaufende Schuljahr 2016/17 gibt die neue Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) zum Ende der Sommerferien bekannt.
Verband: Sitzenbleiben ist bei einer Legasthenie oder Dyskalkulie keine Lösung
«Weder ist Sitzenbleiben ein Stigma, noch ein Eingeständnis der Schwäche», unterstrich Gebauer. «Natürlich sollte Sitzenbleiben die Ultima Ratio bleiben und zuvor alle pädagogischen Möglichkeiten ergriffen werden, das zu vermeiden.» Sie gehe aber davon aus, dass Lehrer die betroffenen Schüler in der Regel früh im Blick hätten und alle Fördermöglichkeiten ausschöpften.
An der Spitze beim Wiederholen
Nach Angaben des Bildungsforschers Andreas Schleicher gibt Deutschland im internationalen Vergleich zusammen mit Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Spanien das meiste Geld für Klassenwiederholer aus. «Deutschland liegt weiterhin in der Spitzengruppe bei den Sitzenbleibern», berichtete der Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf Anfrage.
Für den Dortmunder Erziehungswissenschaftler Bos steht im Grundsatz fest: «Sitzenbleiben bringt nichts.» Normalerweise würden die Schüler in den ersten Wochen besser, fielen dann aber wieder zurück und kämen am Ende oft nur mit Mühe und Not durch.
Streit ums Sitzenbleiben: Sinnvolles Instrument oder pädagogisch verfehlt?
«Das muss man früher diagnostizieren», unterstreicht der Direktor des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung. «Lehrer müssten schon im Oktober merken: Das Kind kommt nicht mit, versteht etwa den Dreisatz nicht. Sie müssten Ressourcen haben, einzugreifen, statt schwächere Schüler mitzuschleppen und erst im Januar einen Blauen Brief zu schicken. Das ist das Versagen von Schule.»
Lediglich in Ausnahmefällen könne Sitzenbleiben sinnvoll sein. «Manche Schüler brauchen in der Pubertät einen Schuss vor den Bug.» Die «Ehrenrunde» komplett abzuschaffen, nütze allein aber auch nichts, wenn die Ressourcen zur Förderung nicht zur Verfügung gestellt würden. dpa
DÜSSELDORF. Die GEW hat auf den Vorstoß von Wilfried Bos reagiert – und als „populistischen Schnellschuss” kritisiert. “Der Bildungsforscher liegt richtig mit der Diagnose, dass Sitzenbleiben nichts bringt. Sein Therapievorschlag ist aber weder durchdacht, noch bildungspolitisch sinnvoll“, sagte heute die nordrhein-westfälische GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer.
Dass Lehrkräfte in den Sommerferien volle sechs Wochen Urlaub hätten, ist für Schäfer ein sich hartnäckig haltendes Vorurteil. „Lehrkräfte nehmen in den Sommerferien wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch ihren Jahresurlaub. In der letzten Woche vor Wiederbeginn der Schule ist Präsenzpflicht angesagt. Da finden Konferenzen statt, wird das Schuljahr geplant, sind die Lehrkräfte bei den notwendigen Nachprüfungen im Einsatz“, erklärt die GEW-Landeschefin.
„Komm mit! Fördern statt Sitzenbleiben“
Statt „punktuell zu büffeln“, so die Gewerkschafterin, sei „kontinuierliche und nachhaltige Förderarbeit mit leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern“ sinnvoll. Hierzu habe laut Schäfer das Projekt “Komm mit! Fördern statt Sitzenbleiben”, eine gemeinsame Initiative des Schulministeriums und Vertretern von Lehrerorganisationen in Nordrhein-Westfalen, erfolgreich gearbeitet. Dorothea Schäfer: „Die Sitzenbleiberquote in den Jahrgangsstufen 7,8 und 9 konnte schrittweise reduziert werden.“
Ziel der Initiative sei es gewesen, wirksame Förderkonzepte und Maßnahmen zur Reduzierung der Sitzenbleiberquote sowie die Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Individuelle Förderung zur Reduzierung der Sitzenbleiberquote an den teilnehmenden Schulen zu identifizieren. „Die Schulen hatten für die Dauer der Initiative als zusätzliche Personalressource 0,3 Stellenanteile für die Entwicklung und Umsetzung ihrer Förderkonzepte und bedarfsorientierte Fortbildungsangebote erhalten. Leider ist das erfolgreiche Projekt zum Schuljahresende 2015 nicht verlängert worden“, bedauert die GEW-Landesvorsitzende.
