BREMEN. Der Anteil der Viertklässler, die nicht richtig lesen können, ist seit 2001 um zwei Prozentpunkte auf 18,9 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen – und: Es sind vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien, die Defizite aufweisen. Diese aktuellen Ergebnisse der IGLU-Studie haben es einmal mehr bestätigt: Nach wie vor gelingt es dem deutschen Schulsystem nicht, Kindern aus bildungsferneren Elternhäusern bessere Schulchancen zu geben. „Bildungsgerechtigkeit: Die Zeit drängt!“ Unter diesem Titel fordern deshalb jetzt Pädagogen konkrete Maßnahmen „gegen die – schon in den Schulen drohende – Zwei-Klassen-Gesellschaft“. Sie haben dafür einen Aufruf an die Bundesregierung gestartet.
Natasha Chub-Afanasyeva / flickr (CC BY 2.0)
In ihrer Petition warnen sie: „Bildungsgerechtigkeit ist in unserer Gesellschaft Konsens. Alle Kinder sollen sich und ihre Fähigkeiten bestmöglich entwickeln können. Wir nehmen jedoch mit großer Sorge wahr, dass dieses Ziel in immer weitere Ferne rückt. Mehrere unabhängige Studien aus den letzten Jahren haben in bedrückender Weise dokumentiert, wie sich das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft auf unsere Kinder, ihre Bildung und ihre Schulen auswirkt.“ Die Initiatoren, zu denen der Pädagogik-Professor Hans Brügelmann gehört, fordern darum die Einsetzung eines unabhängigen Bildungsrats, in dem Experten aus allen Bereichen vertreten sind: Schulpraxis und Erziehungswissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Sie sollen dem Aufruf zufolge Leitlinien und konsensfähige Reformvorschläge für die Entwicklung unseres Bildungssystems erarbeiten.
„Ein solcher Bildungsrat kann die Probleme nicht selbst lösen. Aber er kann wie in den 1960er und 1970er Jahren überparteiliche Impulse setzen, um die drängenden Probleme anzugehen, zu denen schon damals die soziale Ungleichheit zählte“, so heißt es. Wo anzusetzen ist, dazu haben die Initiatoren eigene Thesen formuliert:
- „Vorschulische Bildung: Alle Kinder haben Anspruch auf eine bestmögliche kostenlose Förderung durch geschultes Personal. Was in die elementare Bildung investiert wird, zahlt sich später vielfach aus!
- Die einzelnen Schulen: Die Schule ist für die ihr anvertrauten Kinder da, nicht umgekehrt. Schulen müssen ermutigt werden, diesen Grundsatz in konsequente Unterrichts- und Schulentwicklung umzusetzen.
- Professionelle Lerngemeinschaften: Eine solche Pädagogik und Didaktik der Vielfalt stellt höchste Ansprüche an die Haltung und an das Können von Lehrerinnen und Lehrern. Lehreraus- und -fortbildung müssen zusammenwirken, um solches Lernen zu sichern.
- Staatliche Kontrollen und Maßnahmen der Evaluation: Vor einem Denken in Gewinnern und Verlierern hat bereits die Expertenkommission zur Einführung von Bildungsstandards gewarnt und darum für Mindeststandards plädiert. Diese können in Kombination mit Profilprüfungen nachgewiesen werden.
Es ist Aufgabe aller Schulen, ihren Schülerinnen und Schülern zu bestmöglichen individuellen Leistungen zu verhelfen. Hohe Testwerte allein sind aber noch keine Garantie für Qualität. ‚Gut‘ ist eine Schule erst dann, wenn sie allen ihren Schülerinnen und Schülern auf der Basis einer demokratischen Lebens- und Lernkultur eine bestmögliche Entwicklung ermöglicht.
- Systemsteuerung: Inklusion ist die Aufgabe aller Schulen: Alle Kinder müssen mitgenommen, nicht abgeschult werden. Wir brauchen ein umfassendes Konzept zur Familienbegleitung.
- Kommunale Entwicklung: Das Entstehen von „Ghettos“ und Parallelgesellschaften muss durch Stadtteilentwicklung und Steuerung der Schülerströme verhindert werden.
- Wirtschaft und Politik: Die Entwicklung des Arbeitsmarktes muss in gemeinsamer Verantwortung von Wirtschaft und Politik so gesteuert werden, dass alle die Chance haben, zu arbeiten und von dieser Arbeit zu leben. Heranwachsende dürfen nicht in die Perspektivlosigkeit entlassen werden.“
Nur eine gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung könne dies verhindern. Das Zurücklassen vieler Kinder und Jugendlicher gefährde die Demokratie. „Wir bitten darum alle Bürgerinnen und Bürger, sich diesem Aufruf anzuschließen. Wir bitten alle, die im Bildungsbereich Verantwortung tragen, unsere Forderungen zu unterstützen. Wir fordern die Kultusministerkonferenz, die Länderregierungen und die Bundesregierung auf, sie umzusetzen.“ Mehr als 2.000 Menschen haben die Petition bislang unterschrieben. N4t
