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Immer mehr Lehrer psychisch überlastet: Zerrieben zwischen Anspruch und Wirklichkeit

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BERLIN. Das deutsche Schulsystem befindet sich derzeit in einem Teufelskreis: Es herrscht akuter Lehrermangel, der durch krankheitsbedingte Ausfälle noch verschlimmert wird – dadurch werden die aktiven Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich belastet, was wiederum zu mehr stressbedingten Krankheitsfällen führt. Verschiedene Studien zeigen, dass der Lehrerberuf seit langem zu den Spitzenreitern zählt, wenn es um psychische und psychosomatische Leiden geht – und eine Besserung der Verhältnisse ist nicht in Sicht. Ein betroffener Lehrer erzählt, wie ihn vor allem der Stress mit Eltern und Schulleitung krank gemacht hat.

Immer mehr Lehrer fühlen sich überlastet. Foto: pixabay

Es ist kein Geheimnis mehr: Der Druck an Schulen wächst. Es ist vor allem dieser Druck, der permanente Stress, der immer mehr Lehrer erkranken lässt. „Lustlose und unverschämte Schüler, garstige Eltern mit überzogenen Erwartungen, wachsende Klassenverbände und Aufgabenbereiche“, macht Dr. Gerhard Hildenbrand, Klinikdirektor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Lüdenscheid, unter anderem als Belastungsfaktoren aus. In einem Interview mit der Westfalenpost erklärt er: „Lehrer leiden immer öfter unter sogenannten Stressfolgeerkrankungen wie hohem Blutdruck und Schmerzerkrankungen, aber auch unter seelischen Störungen wie Depressionen und Angstzuständen.“ Vor allem die seelischen Erkrankungen würden laut Hildenbrand häufig längere Arbeitsunfähigkeitszeiten begründen und könnten zudem zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben führen.

Streitfall Dienstunfähigkeit: Wie Sie als verbeamteter Lehrer Ihr Recht bekommen können

Durch die extremen Belastungen im Beruf werden jedes Jahr Tausende von Lehrerinnen und Lehrer frühzeitig pensioniert. Das komplizierte Verfahren wirft viele Fragen auf. News4teachers hat deshalb jetzt einen 36-seitigen Ratgeber herausgegeben, der Antworten liefert und Lösungen für mögliche Probleme aufzeigt, die Betroffenen drohen können – verfasst vom Fachanwalt Michael Else.

Hier lässt sich das Dossier herunterladen (kostenpflichtig).

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„Wir sind doch Freiwild“

Der Lehrer Bernd W. ist inzwischen 63 Jahre alt und zu 80 Prozent schwerbehindert – vor allem bedingt durch psychische Belastungen und Mobbing am Arbeitsplatz. Er hat uns seinen Leidensweg aus seiner Sicht geschildert. Für ihn ist vor allem der Einfluss, den Eltern inzwischen auf die Schule ausüben, zum Problem geworden. „Wir sind doch Freiwild für die Eltern“, sagt Bernd W. und nimmt damit auch Bezug auf seine eigenen Erfahrungen. Bereits 2004 hatte das Gesundheitsamt bei ihm eine „psychoreaktive Symptomatik im Sinne eines Erschöpfungssyndroms“ diagnostiziert. 2006 verstärkten sich die Erkrankungssymptome, nachdem ein Konflikt mit einer Elterngruppe eskalierte.

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Die Eltern hätten ihre Kinder gegen ihn aufgehetzt, sodass die Kinder irgendwann den Unterricht boykottierten. „Die Eltern haben massiv versucht Einfluss auf den Unterricht zu nehmen“, erinnert sich Bernd W. Die Eltern warfen ihm vor, der Unterricht falle zu häufig aus, er schaffe es nicht, die Klasse zu bändigen und den Stoff zügig zu vermitteln. Besonders Eltern, deren Kinder schlechte Noten schrieben, beschwerten sich. Der News4teachers-Redaktion liegen Briefe der Elternvertretung vor, in der sie andere Eltern auffordert, Kritik der Kinder bezüglich Herrn W. an sie zu schicken. Wortwörtlich heißt in den E-Mails: „Ich brauche diese Kommentare als ‚Munition‘ bei meinem Gespräch mit der Schulleitung.“ Das explizit erklärte Ziel: Möglichst einen Lehrerwechsel erzwingen.

In einer weiteren Mail an die Schulleitung heißt es dann: „Die Eltern der Klasse fordern für ihre Kinder einen qualifizierten regelmäßigen Unterricht. Sollte der Schulleitung nicht möglich sein, dafür zu sorgen, wenden wir uns an das Schulamt.“ Für Bernd W. war besonders schlimm, dass er sich von der Schulleitung nicht unterstützt fühlte. „Aber natürlich stehen Schulleitungen und Schulämter auch selbst unter Druck“, räumt er ein. Eine vertrackte Situation.

Höllenjob Lehrer?

Dr. Gerhard Hildebrand zeichnet im Interview mit der Westfalenpost ein düsteres Bild des Lehrerjobs: „Manchmal herrscht in Schulen ein Lärm, der unter industriellen Bedingungen nicht tolerabel wäre. Zudem wachsen die Aufgaben.“ Arbeitswochen von über 50 Stunden seien keine Ausnahme und im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen haben Lehrer kaum störungsfreie Pausenzeiten. Erholungszeiten sind auch deshalb gar nicht umzusetzen, weil Lehrkräfte in den Freistunden ihre Kollegen vertreten müssen, die auf Exkursion sind – oder eben krank.

Laut der Studie „Lehrergesundheit“ der DAK-Krankenkassen aus dem Jahr 2011 leiden mehr als die Hälfte der Lehrer gesundheitlich stark und Stress und emotionaler Beanspruchung. Jeder fünfte Lehrer glaubt sogar laut der repräsentativen Befragung, dass er aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit vorzeitig in den Ruhestand gehen muss – Tendenz steigend. Eine aktuellere Studie der DAK aus dem Jahr 2017 lässt sich so zusammen: Lehrkräfte sind körperlich eigentlich fit, sie sind sportlicher als der Durchschnitt der Bevölkerung, haben seltener Übergewicht und rauchen nur halb so häufig wie die Allgemeinbevölkerung. Allerdings erkranken Pädagogen häufig an Burnout und psychischen Krankheiten als der Rest der Bevölkerung.

Für viel Wirbel hatte 2014 das Gutachten des Aktionsrates Bildung im Auftrag der Bayerischen Wirtschaft gesorgt, nach dem 30 Prozent der Beschäftigten im Bildungswesen unter psychischen Problemen leiden und von Burnout bedroht sind. „Höllenjob Lehrer“ titelte dazu die Süddeutsche Zeitung. Burnout sei zwar keine eigenständige Diagnose, erklärten die Experten der Studie zur Veröffentlichung, sondern ein Zusammenspiel mehrerer Risikofaktoren, dennoch sei die Zunahme an festgestellter Erschöpfung besorgniserregend. Insgesamt hatte sich die Zahl der Krankheitstage laut dem Gutachten vom Jahr 2000 bis 2014 fast verdoppelt. Ein Fazit: Den Lehrern fehlt es an Unterstützung. Sie erlebten im Alltag eine Vielzahl von Attacken und könnten sich kaum wehren.

Eskalierter Konflikt

Genau dieses Gefühl hat Bernd W. weiter erkranken lassen. Er berichtet, wie die Eltern seiner damaligen achten Klasse ein mögliches Alkoholproblem ins Spiel brachten und ihre Kinder fragten, ob ihnen an ihrem Lehrer etwas aufgefallen sei. Bei einem Elternabend einigten sich die Eltern außerdem darauf, dass die Kinder geschlossen den Raum verlassen sollten, wenn der Unterricht ihrer Meinung nach mal wieder nicht gut lief – alles wurde in schriftlichen Protokollen festgehalten. „Ich habe das als Angriff gegen mich verstanden“, so Bernd W. Seinen Schülerinnen und Schüler blieb die Ablehnung seitens der Eltern natürlich nicht verborgen und auch sie äußerten sich zunehmend offen negativ im Unterricht oder verweigerten die Mitarbeit.

Doch einige Eltern hielten auch zu Bernd W. und leiteten ihm die entsprechenden Mails der Elternbeiratsvorsitzenden weiter. „Hetz- und Brandschriften“ nennt Bernd W. diese Briefe. Die Ankündigung seines Schulleiters, seinen Unterricht aufgrund der Kritik besuchen zu wollen, verstand er dann auch nicht mehr als konstruktive Lösung, um eine „Verbesserung des Unterrichts zu erreichen“, wie der Schulleiter es ausdrückte, sondern als weitere Demütigung – nun auch vor den Schülern. Die Situation spitzte sich über ein Schuljahr lang immer weiter zu, bis an eine Deeskalation nicht mehr zu denken war – und Bernd W. erneut erkrankte. Es folgten Klinikaufenthalte. 2009 erlitt der Mittelstufenlehrer einen Bandscheibenvorfall, 2010 einen Schlaganfall. Alles Folgen der Überlastung. 2012 erfasste das Gesundheitsamt einen Behinderungsgrad von 60 Prozent. Mit einbezogen wurden unter anderem folgende Beeinträchtigungen: Schwerhörigkeit, Depressive Störungen, Funktionsstörung der Wirbelsäule und Herzrhythmusstörungen. Daraufhin stellte Bernd W. 2011 einen Versetzungsantrag.

Burnout als ernst zu nehmende Problem

Immer wieder berichten Lehrer von ihrem täglichen Klassenkampf. Normaler Unterricht sei häufig gar nicht mehr möglich. In Nordrhein-Westfalen waren Lehrer rund 1,8 Millionen Tage im Jahr 2016 krank. Das geht aus dem neuen Krankenstandbericht des NRW-Innenministeriums hervor. Damit liegt die Krankenstandsquote an den Schulen bei 6,3 Prozent. Im Schnitt war jeder Lehrer an fast 9,5 Tagen im Jahr 2016 krank, berichtet die Rheinische Post. Besonders hoch war der Krankenstand an Hauptschulen, bei den verbeamteten Lehrern fielen die meisten Tage an Grundschulen an. Wissenschaftler sehen laut Rheinischer Post einen direkten Zusammenhang zwischen Arbeitsklima und Fehltagen: Je wohler Mitarbeiter sich fühlen, desto seltener werden sie krank.

Insgesamt seien vor allem Menschen in helfenden Berufen von Burnout betroffen, wie Peter-Michael Roth, Chefarzt der Oberbergklinik Berlin-Brandenburg, in einem Interview mit der Berliner Morgenpost  erklärt: „Diese Menschen erhoffen sich vor allem über ihren Beruf Anerkennung und Zuwendung.“ Doch die gesellschaftlichen Bedingungen hätten sich verändert: „Kinder wie Eltern werden immer schwieriger. Die Kinder werden nicht mehr zur Disziplin erzogen. Die Eltern erwarten von den Lehrern, dass sie alles in Ordnung bringen, was sie selbst nicht geschafft haben in der Erziehung. Es ist wirklich hart geworden für Lehrer.“

Als Symptome für Burnout nett Roth beispielsweise Ein- und Durchschlafstörungen, Antriebsarmut und das Gefühl, dass man alles nicht mehr schafft. Andere Experten nennen darüber hinaus das Gefühl der Hilflosigkeit, Arbeitsunlust, Distanzierungswünsche von Schülern oder Kompetenzzweifel als Anzeichen. Als der auslösende Faktor für das Burnout wird vor allem die Diskrepanz zwischen den selbst gestellten Zielen und der Konfrontation mit der schulischen Realität angesehen.

Arbeiten trotz Krankheit

Schaut man auf die Hauptgründe für Frühpensionierungen stehen psychische und psychosomatische Erkrankungen ganz oben. Sie werden je nach Erhebung in 32 bis 50 Prozent aller Fälle als Grund angeführt (vgl. hierzu auch das N4T-Dossier “Streitfall Dienstunfähigkeit”). Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich viele Lehrer trotz gesundheitlicher oder psychischer Probleme noch bis zu ihrem gesetzlichen Pensionsalter krank zur Schule schleppen. Denn: Die meisten können sich eine Dienstunfähigkeit und den vorzeitigen Ruhestand einfach nicht leisten.

Für Bernd W. wäre eine frühzeitige Pensionierung ebenfalls finanziell nicht möglich gewesen. „Ich musste also krank zur Schule gehen, dabei wollte ich nur noch weg.“ Außerdem sieht er es als gesellschaftliches Problem an, dass zwar viel über psychische Probleme im Allgemeinen geredet wird, aber im Einzelfall einfach keine Akzeptanz zu erwarten ist. „Man wird zur ‚Persona non grata‘. Die Karriere ist damit beendet“, so Bernd W.

Sein Leidensweg ging also weiter. Nach seinem Versetzungsantrag folgten verschiedene Abordnungen an andere Schulen für begrenzte Zeiträume. Am Ende bekam er immer wieder den Bescheid, sich wieder an seiner ursprünglichen Schule zu melden – obwohl der Arzt vor einem Einsatz dort gewarnt hatte, da es die Krankheit wieder verschlimmern könnte. „Aber niemanden interessiert Ihre Psyche“, meint Bernd W. leicht verbittert. Er beschreibt seine Depression wie einen Marsch über ein Minenfeld. „Und der Schulleiter und das Schulamt fliegen zusätzlich wie Drohnen darüber“.

2017 wurde ihm nach mehreren Anträgen endlich seine Versetzung an eine andere Schule mitgeteilt. Doch der ursprüngliche Konflikt lässt ihn bis heute nicht richtig los. Kurz nachdem er seinen Dienst an der neuen Schule angetreten hatte, erfuhr er von einem Brief, den eine Elternvertreterin an die Schulleitung geschrieben hatte. Darin stand: „Ich habe viele Jahre in der Schulelternarbeit in verschiedenen Funktionen gearbeitet. Nun erfahre ich, dass Herr W. an Ihre Schule versetzt werden soll. Da stellt sich mir doch die Frage, ob Ihnen tatsächlich alle nötigen Informationen über diesen Lehrer vorliegen und ob Ihnen die Vorfälle und Entgleisungen, die sich an seiner früheren Dienststelle ereignet haben, bekannt sich?“ Und weiter heißt es: „Es geht nicht darum, Herrn W. zu schaden, es geht lediglich um das Wohl der Schüler, der Lehrer und der Eltern.“ Dass Bernd W. zu den Lehrern zählt, um dessen Wohl sich die Schule kümmern sollte, scheint die Verfasserin nicht zu interessieren. Agentur für Bildungsjournalismus

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