KÖLN. Der Digitalpakt ist seit dieser Woche in trockenen Tüchern – der Startschuss für die Digitalisierung der Bildung in Deutschland ist damit gefallen. Klar ist: Das wird die Schulen in Deutschland nachhaltig verändern. Die Frage allerdings lautet dabei: Wie lässt sich sicherstellen, dass dies auch zum Nutzen von Lehrern und Schülern geschieht? Gestern trat jemand im Rahmen der didacta in Köln auf, der innovative – und in Sachen Digitalisierung fortgeschrittene – Bildungssysteme kennt und wohl kompetent wie kein Zweiter darüber Auskunft geben kann, wohin die Entwicklung gehen sollte: PISA-Chef Andreas Schleicher. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek sprach mit ihm.
Hier geht es zu Teil 2 des Interviews.
In Deutschland, so scheint es, ist die Debatte um die Digitalisierung der Schulen extrem polarisiert – die einen sehen in ihr die Lösung für alle Bildungsprobleme, für andere ist Digitalisierung im Unterricht die „totale Verblödung“. Was bedeutet Digitalisierung wirklich für die Bildung?
Andreas Schleicher: Die Digitalisierung birgt ein enormes Potenzial. Sie ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Zugriff auf die geeignetsten Medien und Informationsquellen. Auch die Art des Lernens wird innovativer. Denken wir nur einmal an virtuelle Laboratorien. Schüler können dort selbst Experimente durchführen, die sonst kaum möglich wären. Interaktive Inhalte, Lernen im Team – all das sind zusätzliche Möglichkeiten auf Seiten der Lernenden, die es dank der Digitalisierung gibt. Ich sehe auch ein großes Potenzial auf Seiten der Lehrenden, ihren Unterricht zu verbessern. In Shanghai beispielsweise gibt es eine Plattform, auf der Lehrkräfte ihre Unterrichtskonzepte und Unterrichtseinheiten einstellen können. Je mehr Reaktionen es gibt, je mehr andere Lehrkräfte ein Unterrichtskonzept nutzen, verbessern oder diskutieren, desto höher steigt der Status. Das ist ein schöner Anreiz. Denn am Ende des Schuljahres fragt der Schulleiter seine Lehrkräfte nicht nur: Wie gut haben Sie ihre eigenen Schüler unterrichtet? Sondern auch: Was haben Sie selber beigetragen zum Bildungssystem? Wie werden Sie von ihren Kollegen gesehen?
In der Vernetzung von Lehrkräften liegt das Geheimnis, aus dem Lehrerberuf eine echte Profession zu machen. Das große Problem ist doch oft die Vereinzelung im Lehrberuf, die die traditionellen industriellen Lehrmethoden geschaffen haben. Wo der Lehrer als Einzelkämpfer im Klassenzimmer steht, dort schafft die Digitalisierung ganz neue Perspektiven. Darüber hinaus kann die Digitalisierung die Grenze zwischen Schule und außerschulischem Lernen verwischen. Wenn‘s gut gemacht wird, dann bedeutet das, dass Schüler auch außerhalb der Schule auf Unterrichtsmaterial zugreifen können, dass sie ihre Hausaufgaben interaktiv durchführen, dass sie mit den Lehrkräften noch nach Unterrichtsschluss kommunizieren können.
In Deutschland sieht die Praxis allerdings anders aus…
Andreas Schleicher: Ja, das ist in Deutschland leider noch lange nicht Realität. Die sieht leider oft noch ganz anders aus – und zwar so, dass die Technologie unreflektiert eingesetzt wird und deshalb sogar mehr Schaden anrichtet, als dass sie Nutzen bringt. Das zeigen die PISA-Resultate deutlich. Die Korrelation zwischen Technologieintensität und Lernergebnissen ist in den meisten Ländern negativ. Eine Technologie des 21. Jahrhunderts passt nicht mit einer Pädagogik aus dem 20. Jahrhundert und einer Schularchitektur aus dem 19. Jahrhundert zusammen. Das führt zu negativen Effekten. Das sollte uns aber nicht davon abschrecken, nach guten Lösungen zu suchen.
Das fängt an bei der Diagnostik. Mithilfe der Technologie haben wir neue Möglichkeiten zu erkennen, wie einzelne Schüler unterschiedlich lernen. Und auf dieses individuelle Lernverhalten können wir unsere Lehrmethoden anpassen. Wenn ich aber als Lehrer digitale Medien genauso einsetze wie ein traditioneller Pädagoge seine Schulbücher – wenn ich also alle Schüler mit denselben Inhalten beschäftige und mit denselben Methoden unterrichte –, dann sitzen die Schüler halt im Klassenzimmer und kopieren Texte aus Google. Natürlich bekomme ich dann schlechtere Ergebnisse als mit den traditionellen Methoden.
Hat die Digitalisierung Einfluss auf die Unterrichtsmethodik? Anders gefragt: Wie verändert sich die Lehrerrolle?
Andreas Schleicher: Die Rolle der Lehrkraft verschiebt sich – weg vom reinen Wissensvermittler, hin zum Mentor, der Lernprozesse ermöglicht und steuert. Lernen ist immer ein sozialer Prozess. Und Technologie kann diesen sozialen Prozess verstärken. Aber sie kann diesen nicht ersetzen. Insofern werden Lehrkräfte sogar noch sehr viel wichtiger, als sie es heute schon sind. Das Positive daran ist in meinen Augen: Sie können sich dadurch mehr auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Man wird doch vor allem deshalb Lehrer, um junge Menschen zu begleiten, um ihnen zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden. Und die Technologie bietet uns die Möglichkeit, die Routinearbeit – die Vermittlung von Fachwissen – zu vereinfachen. Dadurch bekommen wir Raum für das Wesentliche. Und das Wesentliche ist nun mal das Lernen. In der Vergangenheit haben wir für die Arbeit gelernt. Heute ist das Lernen, das lebenslange Lernen, die eigentliche Aufgabe. Das ist der große Paradigmenwechsel. Und dabei können die Lehrkräfte durch eine neue Pädagogik eine herausragende Rolle spielen.
Die Digitalisierung verändert ja nicht nur die Schule, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft drumherum. Was müssen Schülerinnen und Schüler heute lernen, um künftig gut auf die digitale Welt vorbereitet zu sein?
Andreas Schleicher: Das Wissen wird weiterhin von Bedeutung bleiben. Aber auch hier sehen wir eine Verschiebung. Die Reproduktion von Fachwissen verliert ganz klar an Bedeutung. Das kann Google besser und schneller. Wichtiger wird ein epistemisches Verständnis: Kann ich denken wie ein Mathematiker? Kann ich denken wie ein Naturwissenschaftler? Kann ich denken wie ein Historiker? Wenn wir zum Beispiel an die Geschichte denken: Im Zeitalter der Digitalisierung macht es wenig Sinn, sich Namen oder Plätze zu merken. Denn das ist im Grunde totes Wissen. Wichtiger ist: Kann ich erkennen, wie sich das Narrativ der Gesellschaft entwickelt hat? Warum hat es sich so entwickelt? Kann ich die historischen Prozesse verstehen? Übertragen auf die Naturwissenschaften heißt das: Kann ich ein Experiment konzipieren? Oder Grundsätzlicher: Kann ich unterscheiden zwischen Erkenntnissen, die man wissenschaftlich verstehen kann und Behauptungen, an die man glauben muss. Ich denke, dass ist das Entscheidende. Nicht das Anhäufen von Fachwissen, sondern die Kenntnis der Strukturen. Wenn wir dieses Strukturwissen nicht haben, dann werden wir auch nicht sinnvoll bei Google suchen können. Man muss lernen, die geeigneten Fragen zu stellen.
Es kann nicht mehr darum gehen, unser Wissen an die nächste Generation zu vermitteln, sondern sie zu befähigen, unser Wissen infrage zu stellen zu können. Und neues Wissen zu schaffen. Dazu braucht man ein sehr grundlegendes Verständnis: Was ist eigentlich Mathematik – oder Geschichte? Was sind die Paradigmen, die dort herrschen? Was sind die Sichtweisen der verschiedenen Disziplinen? Dieses epistemische Wissen wird in meinen Augen an Bedeutung gewinnen.
Heute ist es wichtig, nicht irgendetwas zu lernen – sondern einen eigenen Kompass zu entwickeln. Dinge verstehen, vergleichen, bewerten zu können, Verantwortung zu übernehmen.
Selbst im Sport geht es nicht mehr nur darum, irgendwie athletisch zu werden. Auch dort rücken andere Fragen in den Fokus: Wie können wir unseren Charakter entwickeln? Wie können wir Verantwortung für uns selber übernehmen? Wie können wir Verantwortung für andere übernehmen? Wie können wir Führungskompetenzen entwickeln? All das sind in meinen Augen Kompetenzen, die im Zeitalter der Digitalisierung wichtiger werden. Die künstliche Intelligenz sollte uns dazu bringen, mehr darüber nachzudenken, was uns eigentlich menschlich macht – was die wirklich menschlichen Fähigkeiten sind. Das ist: Neues zu schaffen. Punkte zu verbinden, um zu einer richtig großen Idee zu gelangen. Wissen infrage zu stellen. Sozial kompetent zu sein. Aus diesen Faktoren entsteht die Innovation.
Fördert die Digitalisierung nicht auch die Vereinzelung?
Andreas Schleicher: Die Digitalisierung bewirkt oft auch das Gegenteil, ja. Viele Menschen bewegen sich in Blasen, in denen sie nur noch Kontakte mit Leuten haben, die genauso denken wie sie, in denen sie nur noch Nachrichten bekommen, die in ihr Weltbild passen. Deshalb ist die Schule so wichtig: Dort müssen junge Menschen lernen, sich aus solchen Boxen herauszubewegen und mit anderen Menschen und anderen Sichtweisen umzugehen. Und das gewinnt an Bedeutung. In der Vergangenheit war es normal, mit Menschen anderer Gesinnung, anderer Einstellung zusammenzutreffen. Das wird durch die digitale Welt eingeschränkt. Wir verbringen mehr Zeit in der virtuellen Welt als in der realen Welt. Da muss die Schule ansetzen: Kreativität zu entwickeln, soziale und emotionale Kompetenzen zu fördern – auch Selbstdisziplin. Wer im Internet surft, weiß, wie schnell man sich dabei verlieren kann. Auch die intellektuelle und moralische Entwicklung ist wichtig. Wie kann ich ethische Entscheidungen treffen? Google weiß alles – versteht aber nichts und kann auch nichts bewerten. Das ist unsere Aufgabe: Dieses Wissen, das Google ausspuckt, einzuordnen.
Den moralischen Kompass haben wir von unseren Eltern mitbekommen, später von einer Außenwelt, die uns Orientierung gegeben hat. Die digitale Welt gibt uns keinerlei Orientierung mehr. Die verlangt sie von uns. Werte muss man nicht am Computer vermitteln. Aber ich glaube, auch bei deren Vermittlung kann die Digitalisierung genutzt werden. Gute Lehrkräfte können Schülern zeigen, wie man ethische Entscheidungen trifft – auch in der digitalen Welt.
Klar ist, das macht die Arbeit für Lehrkräfte um ein Vielfaches schwerer. In der Vergangenheit hat man Lehrer daran gemessen, wie gut sie sich in Ihrem Fach auskennen. Heute werden sie daran gemessen, wer sie als Person sind, welches Beispiel sie geben, wie sie im Grunde diese Charaktereigenschaften, um die es wirklich geht, dann auch vorleben. Das ist ein sehr viel höherer Anspruch.
Andreas Schleicher (54), ein in Hamburg geborener Bildungsforscher bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris, ist für viele “der PISA-Papst”. Als Internationaler Koordinator leitet er das Programme for International Student Assessment (PISA). Schleicher – der später sein Abitur mit der Traum-Durchschnittsnote 1,0 ablegen sollte – war von seiner Grundschule als ungeeignet fürs Gymnasium eingeschätzt worden; seine Eltern widersetzten sich damals der Empfehlung. Schleicher gilt als Kritiker des deutschen gegliederten Schulsystems.
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