Gewalt an Schulen ist Alltag

2

Lange als Einzelfall von der Politik abgetan, zeigen Studien: Gewalt in Klassenzimmern ist Alltag – körperliche und psychische.

Helmut H.* soll einen Schüler geschlagen haben. So heftig auf Rücken und Schultern, dass er mit Blutergüssen übersät war. Der Schüler erstattete Anzeige, drei weitere Mitschüler bezeugten den Vorfall. Der Rektor an einer bayerischen Schule konnte zunächst nicht beweisen, dass die Vorwürfe erfunden waren. Verunglimpfungen, Verleumdungen in der Presse folgten.

45 000 Lehrkräfte von Gewalt betroffen

Lange wurde Verleumdung, Mobbing und Gewalt gegen Lehrkräfte, wie der Fall Helmut H., von der Politik als Einzelfall abgetan. Eine Umfrage des Verbandes Bildung und Erziehung, VBE, von 2016 zeigt aber: Gewalt ist in der Schule allgegenwärtig. 55 Prozent der 1951 Befragten sagten, dass es an ihrer Schule in den letzten fünf Jahren Fälle gab, in denen Lehrkräfte direkt beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt wurden. Von psychischer Gewalt betroffen waren ein Viertel der Befragten. Erfahrungen mit körperlichen Misshandlungen wie schlagen, boxen, mit Gegenständen werfen, an den Haaren ziehen, mit den Fäusten oder mit Gegenständen prügeln, haben sechs Prozent der befragten Lehrkräfte gemacht. Hochgerechnet auf alle Lehrkräfte entspricht das 45 000 Fällen.

Brüllende Väter in den Schulstunden

Wo beginnt Gewalt gegenüber Lehrkräften? Für Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, beginnt sie bereits bei verbalen Grenzüberschreitungen: „Wenn ein Vater morgens um 8:15 Uhr in die Klasse kommt, die Lehrkraft anbrüllt und droht, einen Anwalt zu kontaktieren, falls die Note seines Kindes nicht verbessert wird, handelt es sich um Gewalt“, sagt sie. Hier ginge die Autorität und der Respekt des Lehrers verloren. Wenn es um das eigene Kind gehe, erlebten manche Eltern Entscheidungen der Lehrer als unzulässigen Eingriff in die Zukunftsgestaltung ihrer Kinder. Das mache sie aggressiv, fasst Fleischmann zusammen.

Auch Cybermobbing wird zunehmend zu einem großen Problem: 77 Prozent der Befragten der VBE-Umfrage bestätigen eine Zunahme von Mobbing über das Internet. Lehrerinnen werden in Whatsapp-Gruppen als Schlampe und Hure, Lehrer als Schlappschwänze von Eltern bezeichnet, Unbekannte denunzieren einen Gymnasiallehrer öffentlich auf einen Blog, er habe mit seinen Schülern geschlafen oder sie zum Sex genötigt.

Gastbeitrag: didacta – Das Magazin für lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 2/2019 von didacta – Das Magazin für lebenslanges Lernen, Seite 4-7. Mit dem Gutscheincode 1906didacta57 kann man zwei Ausgaben gratis lesen. Einfach hier anfordern.

Lehrkräfte finden in didacta praktische Tipps für den Unterricht und für einen gelasseneren Schulalltag. Das Magazin informiert Lehrkräfte aller Schularten über die verschiedensten Aspekte des lebenslangen Lernens, von der Frühpädagogik über Schule und Hochschule bis zur Aus- und Weiterbildung.

Fleischmann ist besorgt über diese Entwicklung. „Der Ton in der Gesellschaft wird rauer. Das spüren wir ja nicht nur bei Lehrkräften, sondern auch bei Rettungskräften, die bei ihrer Arbeit angegriffen werden“, sagt sie. Das sei zum einen zurückzuführen auf soziale Medien, in denen sich Menschen im Ton vergreifen können, ohne Angst vor einer direkten Konfrontation zu haben. Zum anderen seien auch Politiker und die Medien schuld. „Wenn Politiker lauter werden und überall gebrüllt werden darf, wenn der Ton in den Medien rauer wird, ist die Konsequenz daraus, dass sich auch die Kinder im Ton vergreifen“, ordnet Fleischmann die Entwicklung ein.

Gewalt gegen Lehrkräfte war lange Zeit ein Tabuthema. Udo Beckmann, Vorsitzender des VBE, suchte vor drei Jahren nach Statistiken, als er immer mehr Rückmeldungen von Lehrkräften bekam, die psychische und physische Gewalt erfahren hatten. Vergebens. Daher erhob der VBE 2016 selbst die erste Umfrage dazu. „Heute wie damals gilt: Es braucht öffentliche Statistiken. Nur, wenn das Ausmaß für die Ministerien greifbar wird, werden sie die angemessenen Maßnahmen umsetzen, um Lehrkräfte besser zu schützen, zu unterstützen und das Klima an den Schulen langfristig zu verbessern. Die Politik darf mit ihrer ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘-Haltung in keinem einzigen Bundesland mehr durchkommen“, kritisierte er.

„Bremen behaart weiter auf ‚Einzelfälle‘“

Nun, drei Jahre nach der ersten Umfrage, haben die meisten Länder bereits reagiert. „Bis auf Bremen, das immer noch auf ‚Einzelfälle‘ beharrt, sind die Kultusminister aktiv geworden und haben neben Handlungsplänen einen Überblick über Seminare und Fortbildungen veröffentlicht“, sagt Beckmann. „Ein Erfolg ist für uns, dass wir nun endlich das Thema aus der Tabuzone holen konnten und es geschafft haben, dass Gewalt gegen Lehrkräfte bei der Kultusministerkonferenz auf der Agenda steht.“

Helmut H. hat das nichts genützt. Der Fall landete vor Gericht. Er holte sich Unterstützung beim Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband, die Schulämter halfen ihm nicht. Erst im Ermittlungsverfahren stellte sich heraus, dass der Schüler gelogen hatte. Die Verletzungen kamen von einer Schlägerei einen Tag vorher. Seine Mitschüler hatten, ohne nachzudenken, bezeugt, sie hätten die Schläge des Lehrers gesehen. Alle Vorwürfe von der Staatsanwaltschaft wurden fallengelassen, das Schulamt und die Landesregierung pochten jedoch nicht darauf, dass die Presse eine Richtigstellung veröffentlichte.

Helmut H. war über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage, seinen Dienst zu versehen. Weil ihn diese Lügen und die mangelnde Unterstützung psychisch krank gemacht haben.

* Aufgrund des Opferschutzes werden die Beispiele anonymisiert und teils leicht verändert dargestellt.

So können sich Lehrer gegen Gewalt schützen

Keine Toleranz: Lehrkräfte müssen ihren Schülerinnen und Schülern klarmachen, dass verbale Entgleisungen und rohe Gewalt weder auf dem Schulhof, noch im Klassenzimmer geduldet werden. Am besten ist es, wenn die Lehrkraft von Anfang an versucht, ein gutes Verhältnis zu den Schülern aufzubauen.

Gewaltausbrüchen entgegentreten: Falls ein Lehrer mit Gewalt konfrontiert wird, sollte er sich auf keinen Fall provozieren lassen und entsprechende Sanktionen verhängen. Um herauszufinden, warum sich der Schüler oder die Schülerin dem Lehrer gegenüber so verhalten hat, hilft es, die eigene Betroffenheit über die Situation auszudrücken und nach dem Grund für die Ausschreitung zu fragen.

Mit Bildung zum Erfolg: Strafrechtlich kann gegen Gewalt gegenüber Lehrkräften bislang kaum vorgegangen werden, denn für einen Straftatbestand muss eine Strafmündigkeit vorliegen. Kinder unter 14 Jahren können strafrechtlich allerdings nicht belangt werden. Die Lehrkräfte sollten daher die erzieherischen Maßnahmen, die ihnen zur Verfügung stehen, konsequent nutzen: Eine Ermahnung, das Ausschließen eines Schülers oder einer Schülerin vom Unterricht oder die schriftliche Benachrichtigung der Eltern. Helfen solche Maßnahmen nicht, droht in letzter Konsequenz der Schulverweis.

Eskalation mit den Eltern: Involvieren Sie frühzeitig die Schulleitung und Kolleginnen und Kollegen, um die Aspekte anzusprechen. Vergewissern Sie sich, dass die Schulleitung hinter Ihnen steht. Wenn dann die Aufsichtsbehörde doch eine andere Entscheidung trifft, können Sie nichts dagegen tun, aber die Schule muss für Eltern und Schülerinnen und Schüler als Einheit erkennbar sein. Je nach Eskalationsgrad kann auch die Einschaltung der Schulsozialarbeit hilfreich sein, die im Konfliktfall vermitteln kann. Auch stellen Personalvertretung und Personalverwaltung geschulte Kolleginnen und Kollegen für eine Mediation zur Verfügung.

Cybermobbing: Cybermobbing ist ein relativ neuartiges Phänomen. Ein festgelegtes Vorgehen in diesem Fall gibt es nicht. Erste Ansprechpartner können immer die Vorgesetzten sein. Sie müssen solche Vorfälle ahnden, weil das Beamtengesetz sie im Rahmen der Fürsorgepflicht dazu verpflichtet. Sie haben Vorschriften zu erfüllen und entsprechende Möglichkeiten, diese konsequent auszuschöpfen.

Diese und weitere Infos auf:

  • www.polizeideinpartner.de (Polizeideinpartner.de ist das Präventionsportal der Gewerkschaft der Polizei.)
  • www.vbe.de (Kostenlose Broschüre „Gewalt gegen Lehrkräfte“ des VBE, Verband für Bildung und Erziehung)

 

Erstveröffentlichung: didacta – Das Magazin für lebenslanges Lernen, Ausgabe 2/2019, S. 4-7, www.didacta-magazin.de

 

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

2 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Wolfgang Heuer
4 Jahre zuvor

Die tiefere Ursache aller Übel der „Zivilisation“ / „zivilisierten Gesellschaft“ ist „Die Krankheit der Gesellschaft“, eine „kollektive Neurose“, wie der (Gattungs-)Begriff in der Soziologie lautet.

Leider sind die meisten derer, die davon wissen, aus Gründen eigener Befallenheit / Beeinträchtigung nicht befähigt, das wahre Ausmaß des Problems zu erkennen.

Die sehr wenigen wahrheitsgemäßen Beschreibungen / Expertisen wurden / werden aus demselben Grund ignoriert bzw. die Autoren diskreditiert.

Die Angst vor der Wahrheit ist pathologisch (neurotisch), kann aber – und muß (für die Heilung) – überwunden werden.

Kollektive Neurosen bestehen aus den individuellen Neurosen der (Mehrheit der) Mitglieder des – jeweiligen, gemeinten – Kollektivs.

Neurose verstehe ich primär als den Zustand zwischen seelischer Verletzung / Traumatisierung und grundlegender, natürlicher, Heilung.
Neurose ist in Wahrheit weitaus mehr als die in manchen Veröffentlichungen beschriebenen auffälligen Symptome.

Der größere Teil der Symptome „versteckt“ sich in der – angeblichen, vermeintlichen – „Normalität“ der zivilisierten Gesellschaft.
Die Krankheit selbst „versteckt“ sich im Unbewußten der Befallenen.

Im Zustand der Neurose befindet sich die Seele – die ich als rein energetisches (nichtmaterielles, feinstoffliches) Lebewesen sehe – in einer Art „Rückzugs- / Schutzhaltung“, wodurch ihr Leistungs-Potenzial für den materiellen (grobstofflichen) Aspekt des Menschen nur begrenzt verfügbar ist.

Das Leistungs-Potenzial der Seele umfaßt im Wesentlichen ZWEI Komponenten:

1.: ENERGIE (feinstoffliche Lebens-Energie, Kraft der Liebe und des Friedens, Heilkraft, usw.)
und
2.: INFORMATION (intuitive Erkenntnisse, Eingebungen, Ahnungen, Fügungen, Führung, usw.).

Bei Mangel an diesen Komponenten kann kein wahres Leben / Sein, keine gesunde Entwicklung, stattfinden – so daß befallene Menschen auch nicht wahrhaft (geistig-seelisch) erwachsen werden können.

(Kollektive) Neurose sehe ich als den wesentlichen Ursachenfaktor aller sogenannten „Störungen“ / „Krankheiten“ einschließlich der Störung(en) der Fähigkeiten zu wahrer Verantwortung und echten, menschlichen, Beziehungen.

Kollektive Neurosen können sich steigern zu „kollektiven Psychosen“ wie Krieg, Bürgerkrieg, Aufstände, Terror(-ismus), Massaker, Genozid, usw.

Bei fortgesetzter Nichterkenntnis / -Heilung droht der befallenen Population Untergang und Aussterben.
Entsprechende Warnungen finden wir in der Literatur.

Wir stehen in der Erfahrung dieser schlimmsten aller Krankheiten seit mehr als 10.000 Jahren – und vor der Herausforderung, sie nun endlich auch kollektiv zu erkennen und den Weg der grundlegenden, natürlichen, Heilung zu beschreiten.
Das drängende, bedrohliche, Problem „schreit“ nach wahrheitsgemäßer Aufklärung.

Ignaz Wrobel
4 Jahre zuvor

Danke für den sehr gut strukturierten und informativen Block über Gewalt in und um Schulen herum.

Cybermobbing und Schulmobbing kann so weit gehen, dass, wie jetzt in einer südlich von Münster gelegenen Kleinstadt geschehen, ein 15 jähriger Junge sich am Donnerstag erhängte.
Es dürfte niemals derartiges geschehen, dass sich Kinder in einer derart verzweifelten Lage befinden und keinen anderen Ausweg mehr sehen, als diesen Weg zu gehen.
Es ist unentschuldbar, dass da nicht entsprechend von allen Seiten auf den Mob eingewirkt wurde und entsprechende Sanktionen nicht erfolgten bzw. Gruppentherapien eingeleitet wurden.
Nie wieder darf sich derartigen wiederholen !
Aber schon einige Tage später gab es neue Schreckensnachricht aus dem Kreis heranwachsender und jugendlich Pubertierender, die kein Problem darin sahen, mit dem Leben anderer regelrecht zu spielen.
Ich beziehe mich auf die Angriffe in den U-Bahnen durch 10 bis 14jährige Jungen, die in den vergangenen Tagen erfolgten.
Es waren immer Angriffe mehrerer jüngerer gegen ältere Mitschüler, wobei jeweils die älteren durch jüngere Minderjährige ins Gleisbett geschupst wurden und eine Flucht der Opfer aus dieser Situation durch gezielte Fußtritte gegen die Köpfe der Opfer zu verhindern versucht wurde.
Es hat sich schon sehr viel in den Köpfen Heranwachsender durch den permanenten Medienkonsum geändert. Die Wahrnehmung ändert sich, es wird versucht Grenzen zu verschieben, vermeintlich Neues auszuprobieren, ohne Sinn und Verstand, einem Impuls der Gewalt folgend, Gewalt gegen vermeintlich stärkere auszuführen, um ein Gefühl der Überlegenheit zu empfinden.