„Wir brauchen keine Differenzierungs- oder Ganztagsräume“ – Interview mit Schulbauberater Christoph von Winterfeld

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HAMBURG/Düsseldorf. Inklusion, Digitalisierung, Ganztag… Die Liste der Herausforderungen an eine moderne Schule wächst. Die klassische Flurschule mit ihren an bestimmte Funktionen gebundenen Räumen erscheint vor dem Hintergrund des Wandels nicht mehr zeitgemäß. Dass es Alternativen zu kosten- und zeitintensiven (Um-)Baumaßnahmen gibt, die auch aus pädagogischer Sicht Sinn machen, zeigt der Hamburger Schulbauberater Christoph von Winterfeld. Wir sprachen mit ihm über sein mobiles, demokratisches Lernraumkonzept.

 

Mit dem Raum arbeiten, der zur Verfügung steht: Flexibel aufstellbare Module wie die Impuls-Box mit Sitzstufen und Mitgestaltungsmöglichkeiten für Schüler und Lehrer sind Kern des Raumkonzepts des Schulbauberaters Christoph von Winterfeld. Grafik: neue.schule; Rendering: Double Q GmbH.

Sie beschäftigen sich schon lange aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Raum und Pädagogik. Unter anderem haben Sie auch einige Jahre in den Niederlanden gelebt und dort Erfahrungen gesammelt. Was die Einrichtung deutscher Schulen angeht, sagen Sie, mangelt es oft noch an Flexibilität.

von Winterfeld: Das ist richtig. Im klassischen deutschen Klassenzimmer müssen immer noch viele Stühle und Tische verschoben werden, wenn zum Beispiel zwischen den Sozialformen gewechselt werden soll. Die Einrichtung bietet in der Regel kaum Möglichkeiten, die Binnendifferenzierung zu unterstützen. Mal ganz abgesehen von den Bedingungen für die Arbeit mit digitalen Medien.

Was muss sich ändern?

von Winterfeld: Schulraumgestaltung sollte sich von pädagogischen Ideen leiten lassen. Umgekehrt hat der Raum Einfluss auf die Pädagogik. Ich möchte mit meinem Raumkonzept unter anderem Lehrkräften mehr Handlungsraumspielraum schaffen, um den aktuellen Herausforderungen leichter gerecht werden zu können. Und zwar mit dem, was bereits vorhanden ist.

Das heißt, Sie wollen das Flächenpotenzial der bestehenden Klassenraum-Struktur bestmöglich nutzen. Wie soll das funktionieren?

von Winterfeld: Das Konzept basiert darauf, dass für unterschiedliche Phasen eines Lernprozesses unterschiedliche Raumzonen genutzt werden.

Für den Impuls, also zum Beispiel eine Präsentation, gibt es einen Bereich, der für Frontalunterricht optimiert ist. Das ist die sogenannte Impuls-Box, die einem kleinen Auditorium ähnelt. Hier kann auch ein Beamer oder eine interaktive Tafel installiert werden, so dass die Geräte schallgeschützt und ohne den übrigen Raum abdunkeln zu müssen genutzt werden können. So können mehrere Arbeitsgruppen an unterschiedlichen Orten gleichzeitig arbeiten.

Dann gibt es die Besonderheit, dass die meisten der übrigen Arbeitsplätze der Lernenden entlang der Wände aufgereiht sind, um den so entstehenden Bewegungsraum nutzen zu können. Durch den Verzicht auf Sitzreihen geht der vorhandene Raum also nicht verloren. Von den sechzig bis zweiundsiebzig Quadratmetern eines üblichen deutschen Klassenraumes steht mehr Fläche zur Verfügung zum Beispiel für bewegungsorientierte, dynamische Prozesse.

In diesem Zentrum gibt es den Gruppen-Arbeitstisch, an dem gemeinschaftliche Arbeit, stattfindet und die Lehrkraft ihren Arbeitsplatz hat.Das heißt, es entsteht eine Lernlandschaft im Klassenzimmer.

Bewegung spielt dabei eine wichtige Rolle für Sie.

von Winterfeld: Ja. Es geht darum, dass Kinder im Rahmen von gesunder Schule nicht nur sitzen sollen, sondern laufen, stehen, liegen. Auf den Sitzstufen der Impuls-Box kann man sich zum Beispiel auch im Liegen ein Buch anschauen. Außerdem ist der Weg von der Aufnahme eines neuen Stoffes aus der Impuls-Box zum Arbeitsplatz – also eine Raumveränderung von fünf bis zehn Metern – Teil des Verarbeitungsprozesses.

Die Arbeitsplätze entlang der Wände kann jeder Schüler so einstellen, dass man sitzend oder stehend arbeitet. Das gleiche gilt auch für den Besprechungstisch, der in zwei Stufen arretierbar ist. Zur Förderung von Interaktionsprozessen und motorischem Lernen ist es aber nicht so, dass das auf Knopfdruck automatisch geht, sondern es braucht mehrere Kinder, die diesen Tisch gemeinsam verstellen. So wie man auch in der Turnhalle die dicken Matten mit vereinten Kräften aufräumen muss. Die Idee dahinter ist, dass man allein durch die Innenarchitektur Lernsituationen schafft, bei denen vielerlei Fähigkeiten gleichzeitig geschult werden.

Im Zusammenhang mit Inklusion wird allerdings häufig über Differenzierungsräume gesprochen. Wie passt das zu Ihrem Konzept?

von Winterfeld: Differenzierungsräume sind im baulichen Bestand teuer und nur schwer zu realisieren. Das andere ist, dass mit einer modularen Lernlandschaft im wahrsten Sinne inklusive Raum-in-Raum-Lösungen entstehen. Dazu gehören beispielsweise ruhige Nischen für die Einzelförderung. Der Raum passt sich quasi an die Bedürfnisse der Inklusion an und folgt der Pädagogik. „Exklusive Inlusions-Räume“ werden damit überflüssig.

Das gleiche gilt für den Ganztag. Da durch die Organisation der Möbel mehr Bewegungsfläche entsteht, kommen wir der Idee eines wortwörtlichen ‚Freiraums‘ näher. Das heißt, es gibt gar keinen Grund mehr, dass Räume unterschiedlich sein müssen. Ein Klassenzimmer kann also Ganztagsraum sein und umgekehrt.

Mit dem Ganztagsausbau werden Kinder und Jugendliche mehr Zeit in der Schule verbringen. Anders als zuhause haben sie aber in der Regel keinerlei Mitbestimmungsrecht, was die Inneneinrichtung angeht. Wie sollen sie sich in der Schule wohlfühlen?

von Winterfeld: Das ist ein wichtiger Aspekt bei der Investition in Mobiliar. Ein Raum, der niemandem gehört und von niemandem betreut wird, erfährt auch keine Wertschätzung. Vandalismusvermeidung und Reinigung sind erhebliche Kostenfaktoren bei der Bewirtschaftung. Deshalb setze ich auf eine sogenannte pädagogische Bewirtschaftung des Raums. Darunter verstehe ich, dass man das Gebäude und die gesamte Einrichtung auch als Lehr- und Lernmittel nutzt. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit Fragen wie: Wer macht das sauber? Und: Woher kommt Ersatz, wenn ich etwas zerstöre? Man muss sich aber vor Augen halten, dass Kinder mit dem Eintritt in die Schule in ein fertiges System kommen, in das sie sich in der Regel kaum einbringen können, das ihre Sicht der Welt nicht reflektiert. Wenn Architekten beispielsweise von einem „schönen Betongrau“ reden, ist nicht anzunehmen, dass die Kinder das genauso sehen.

Sie haben deshalb beim Entwurf der Möbel auf Mitgestaltungsmöglichkeiten gesetzt. Das heißt, alle Flächen lassen sich immer wieder neu von den Lernenden verändern. Könnte man sagen Ihre Möbel sind „demokratiefördernd“?

von Winterfeld: Durchaus. Der Prozess der Gestaltung ist gelebter Demokratieunterricht. Die Gruppe muss sich überlegen: Wie wollen wir das gestalten? Machen wir einen Wettbewerb? Nach welchen Kriterien bewerten wir den Wettbewerb? Setzt sich die größte Gruppe durch? Nehmen wir die anderen trotzdem noch mit? Wie pflegen wir das anschließend

Sie glauben also an die Fähigkeit zur Eigenverantwortung von Kindern und Jugendlichen?

von Winterfeld: Absolut. Das setzt aber voraus, dass sie nicht in einem seelenlosen Niemandsland unterrichtet werden, sondern eine Umgebung vorfinden, die stimulierend ist, neugierig macht und in der ihnen zugetraut wird, Entscheidungen mitzutreffen. So wird der Klassenraum zu einem Stück Heimat.

(Agentur für Bildungsjournalismus)

Vita

 

Christoph von Winterfeld beschäftigt sich bereits seit seinem Architektur-Studium mit dem Thema Lernraum: Er unterrichtete in den Niederlanden und Frankreich an Managementschulen und Universitäten, betreute als Hausmeister einen Kindergarten und arbeitete schließlich als Gebäudeentwickler auf der Bau- und Bewirtschaftungsseite beim Schulbau Hamburg. Heute entwickelt er als selbständiger Schulbauberater und Referent verschiedener Organisationen bundesweit nachhaltige Gebäude- und Raumkonzepte und unterstützt Schulentwicklungsprozesse.

 

neue.schule – Schulbauberatung für Schulentwicklung, pädagogische Bewirtschaftung und zukunftssichere Gebäude, Groothoffgasse 1, 22303 Hamburg, 0176 2630 2520,

www.neue.schule.de

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