BERLIN. Millionen Eltern, Kinder und Jugendliche in Deutschland müssen sich auf eine beispiellose Situation in der Geschichte der Bundesrepublik einstellen. Bis auf Mecklenburg-Vorpommern, wo am Samstag das Regierungskabinett in einer Sondersitzung tagt, und Sachsen, wo Eltern zunächst nur der Schulbesuch freigestellt wird, haben sich jetzt alle Bundesländer für die schnelle Schließung ihrer Schulen und Kitas entschieden. Der Bundeselternrat bringt eine Prioritätenliste ins Spiel, auf die Angehörige bestimmter Berufsgruppen genommen werden sollen – damit deren Kinder in Notgruppen betreut werden. Tatsächlich haben bereits einige Bundesländer solche Maßnahmen angekündigt.
Aus Sorge vor Ausbreitung des neuartigen Coronavirus wollen praktisch alle Bundesländer die Schulen und Kitas von kommenden Montag an schließen. Am Vormittag entschieden sich das Saarland, Bayern, Berlin, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen zu dem Schritt. Später kamen noch Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Thüringen hinzu. Hessen, Brandenburg und Rheinland-Pfalz entschieden sich am Spätnachmittag. Die Länder wollen die Epidemie damit verlangsamen. Es ist damit zu rechnen, dass sich auch Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern dieser Entscheidung anschließen. Millionen Eltern in Deutschland müssen sich nun Gedanken machen, wie sie die Betreuung ihrer Kinder sicherstellen.
Sachsen will ab kommenden Montag wegen des Coronavirus die Schulpflicht aussetzen. Die Kinder können demnach zu Hause bleiben, eine Betreuung an Schulen wird sichergestellt, war am Freitag aus Regierungskreisen zu erfahren. Lehrer, Schüler und Eltern sollen auf diese Weise Zeit bekommen, sich auf Schulschließungen vorzubereiten. Der genaue Zeitpunkt von Schließungen soll dann im Laufe der kommenden Woche entschieden werden.
Bayern ordnete am Freitag eine Schließung aller Schulen, Kindergärten und Kitas ab Montag bis zum Beginn der Osterferien an. Damit sind in Bayern faktisch bis zum 20. April die Bildungseinrichtungen geschlossen. Eine solche Regelung hatte zuvor als erstes Bundesland auch das Saarland getroffen. Bayern kündigte darüber hinaus einen Notfallplan für die Betreuung bestimmter Kinder an. «Wir werden eine Betreuung sicherstellen für Eltern, die in systemkritischem Berufen tätig sind», sagte Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler).
Schulen und Kitas in Baden-Württemberg werden von Dienstag an geschlossen. Sie sollen erst nach den Osterferien wieder öffnen, entschied das Kabinett am Freitag in Stuttgart. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) versprach, alle anstehenden Abschlussprüfungen zu gewährleisten. Man werde sich deshalb mit den Schulen verständigen. «Die Schülerinnen und Schüler werden keinen Nachteil erleiden», sagte die Ministerin. Am Montag finde der Schulbetrieb noch regulär statt, um einen geordneten Übergang zu ermöglichen. Dann werde man die Schüler informieren und etwa Hausaufgaben besprechen für die Kinder bis nach den Osterferien. Eisenmann sprach von einem «Kraftakt» für Land und Gesellschaft.
Die Schulpflicht in Hessen wird bis zum Ende der Osterferien ausgesetzt. Die Schulen bleiben zwar offen – aber nur, um Betreuungsmöglichkeiten für Kinder von medizinischem Personal zu ermöglichen, so erklärte Ministerpräsident Volker Bouffier. Das Abitur könne abgelegt werden – unter Vorbehalt der weiteren Entwicklung. Kitas würden geschlossen, auch hier gelte eine Extraregelung für Kinder von medizinischem Personal.
Rheinland-Pfalz wird ab Montag die Schulen und Kitas bis zum Ende der Osterferien (17. April) schließen. Das berichtet die “Allgemeine Zeitung”. Über eine Notfallbetreuung solle sichergestellt werden, dass Berufsgruppen, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur gebraucht würden, trotzdem ihrer Arbeit nachgehen können, erklärte Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Überall dort, wo es möglich sei, seien Eltern gebeten, eine Betreuung außerhalb der Schulen und Kitas zu organisieren. „Da, wo das nicht geht, dort gibt es eine Notbetreuung“, versprach Hubig. Für die Lehrer bestehe weiterhin Dienst- und Anwesenheitspflicht. Sie sollen laut Bericht die Notbetreuung übernehmen und Schüler zu Hause mit Unterrichtsmaterialien versorgen.
Allein in NRW sind 2,5 Millionen Kinder betroffen
Auch Bremen schließt von Montag an alle Schulen und Kitas, wie die Landesregierungen mitteilte. Für Schleswig-Holstein gilt: Schulen und Kitas bleiben bis zum Ende der Schulferien am 19. April geschlossen. An weiterführenden Schulen sollen alle Abschlussprüfungen, insbesondere die Abiturprüfungen, auf die vorgesehenen Alternativtermine nach den Osterferien verlegt werden. Ziel der Landesregierung ist es, dass alle Schüler ihre Prüfungen absolvieren und ihre Abschlüsse im laufenden Schuljahr erreichen können. Für Kinder der Schulklassen 1 bis 6 soll zunächst bis Mittwoch weiterhin eine Betreuung in den Schulen ermöglicht werden, wenn folgende Voraussetzungen zutreffen: Beide Eltern arbeiten oder ein alleinerziehender Elternteil arbeitet in einem Bereich, der für die Aufrechterhaltung der wichtigen Infrastrukturen notwendig ist, und diese Eltern können keine Alternativ-Betreuung ihrer Kinder organisieren.
Die Schulen und Kitas in Hamburg stellen ab Montag bis zum 29. März den Regelbetrieb ein. Es sei nicht auszuschließen, dass die Maßnahme verlängert werde, sagte Schulsenator Ties Rabe (SPD) laut NDR-Bericht. Eine Notbetreuung für Eltern, die aus besonderen Gründen darauf angewiesen sind, werde in der Zeit von 8 bis 16 Uhr für Kinder unter 14 Jahren sichergestellt, erklärte er. Außerdem gelte sie auch für Kinder mit Behinderungen, weil hier ein besonderer Bedarf vorliege. Die Lehrkräfte und Beschäftigten würden gebeten, am Montag pünktlich und planmäßig zu erscheinen, soweit sie nicht zuvor in einem Risikogebiet gewesen seien. Am ersten Schultag würden in der Schule Kommunikationsketten vorbereitet, um sicherzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler zu Hause lernen können.
Niedersachsen will sich ebenfalls anschließen. Von Montag an bleiben Schulen und Kindertagesstätten dort zunächst für fünf Wochen bis zum 18. April geschlossen, der Zeitraum beinhaltet die Osterferien. Für Kinder von Beschäftige aus den Bereichen Pflege, Gesundheit, Medizin und öffentliche Sicherheit wie Polizei, Justiz, Rettungsdienste, Feuerwehr und Katastrophenschutz, sowie zur Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge wird es eine Notbetreuung geben. Die Regelung gilt für Kinder bis zur achten Klasse. Schüler haben unterrichtsfrei, ein Online-Unterricht ist nicht geplant. Schulfahrten werden bis zu den Sommerferien gestoppt, ebenso Besuche ausländischer Schülergruppen.
In Berlin stellen nach Angaben des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) ab Montag Schulen und Kitas «stufenweise ihren Betrieb ein». Begonnen werden soll mit den Oberstufenzentren. Der reguläre Schulunterricht in Brandenburg soll ab Mittwoch ausgesetzt werden. Es werde in den Bildungseinrichtungen vorerst keinen Unterricht und keine Betreuung mehr geben, teilte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) nach einer Sondersitzung des Kabinetts in Potsdam mit. In den Kommunen soll den Angaben zufolge eine Notbetreuung für Kinder organisiert werden, deren Eltern in wichtigen Bereichen tätig sind.
Die Zeit am Montag und Dienstag können die Lehrkräfte laut Landesregierung nutzen, um Tages- und Wochenpläne für die Schüler zu erstellen so berichtet der Rundfunk Berlin-Brandenburg. Die Kinder und Jugendlichen könnten dann direkt oder digital mit Aufgaben versorgt und Lehrstoffe so durchgearbeitet werden. “Die Abiturprüfungen werden auch 2020 abgelegt werden können”, betonte Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). Demnach sollen die Schüler allerdings die Möglichkeit haben, statt der regulären Prüfungstermine im April direkt die Nachschreibetermine im Mai zu nutzen.
Bis zum Ende der Osterferien am 13. April haben Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt keinen Unterricht an den Schulen. Alle Abschlussprüfungen, insbesondere die Abiturprüfungen, werden auf die vorgesehen Termine für Nachprüfungen nach den Osterferien verlegt.
Auch in anderen Bundesländern wurde am Freitag über flächendeckende Schulschließungen beraten – und dann entschieden. Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagte im Vorfeld einer Kabinettssitzung, wenn es dazu käme, wären im bevölkerungsreichsten Bundesland auf einen Schlag 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche ohne geregelte Betreuung.
Am frühen Nachmittag kam dann die Bestätigung durch Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Er teilte mit: In Nordrhein-Westfalen schließen wegen des Coronavirus ab Montag alle Schulen. Am Montag und Dienstag stünden aber in den Schulen Lehrer bereit, um die Betreuung sicherzustellen. «Die schlechteste Betreuungsform ist, Kinder dann zu den Großeltern zu geben», sagte Laschet. Die Eltern sollten die Übergangstage nutzen, um die Betreuung der Kinder zu organisieren. Wegen der Coronavirus-Krise werden laut Laschet die Osterferien vorgezogen. Die Schulen bleiben bis zum 19. April dicht. An die Abiturienten gerichtet sagte Laschet, dass alle geplanten und nötigen Prüfungen wie etwa Vorklausuren «regulär» abgeschlossen werden könnten.
GEW: Fernunterricht in der Fläche unmöglich
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey verwies auf die Probleme, die flächendeckende Schulschließungen mit sich bringen. Ein solcher Schritt würde Eltern betreffen, die dann in Kliniken, in der Pflege oder Arztpraxen fehlen würden, sagte die SPD-Politikerin der Rhein-Neckar-Zeitung. «Häufig springen die Großeltern bei der Betreuung ein. Damit würden die Älteren gerade aber umso mehr gefährdet.»
Der Bundeselternrat forderte mit Blick auf die anstehenden Schulschließungen in Deutschland Unterstützung für die Eltern bei der Kinderbetreuung. «Hierbei muss eine Prioritätenliste erstellt werden, welche Berufsgruppen vorrangig Anspruch haben, um das öffentliche Leben und die Versorgung aufrechtzuerhalten», sagte der Vorsitzende des Elternrats, Stephan Wassmuth. Die Rahmenbedingungen dafür müssten bundesweit gleich sein und Entscheider vor Ort müssten sich auf klare Handlungsanweisungen verlassen können. Der Staat stehe hier in der Pflicht. «Wir alle müssen in dieser schwierigen Phase unsere Einzelinteressen zum Wohle unserer Gesellschaft zurückstellen.»
Eltern sollen verstärkt im Homeoffice arbeiten
Die Arbeitgeber zeigen sich angesichts bevorstehender flächendeckender Schließungen von Kitas und Schulen in Deutschland offen dafür, dass Arbeitnehmer verstärkt von zu Hause aus arbeiten. «In Anbetracht der jetzigen Situation sollte mobiles Arbeiten von daheim aus dort eingesetzt und möglich gemacht werden, wo es sinnvoll ist und wo es die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtert», hieß es auf Nachfrage bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Ein solches Vorgehen sei im Interesse von Arbeitgebern und Beschäftigten gleichermaßen.
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) betrachtet die Entwicklung mit Sorge. Klar sei, dass die Schließungen eine große Belastung für die Familien seien, sagte GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann in Berlin. Auf der anderen Seite sei ein Ausgleich des entfallenen Unterrichts nur schwer möglich. «Die Schulen in Deutschland sind nicht flächendeckend darauf vorbereitet, Fernunterricht zu erteilen.» In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt – einschließlich Berufsschulen – rund 43.000 Schulen mit 11 Millionen Schülern und 820.000 Lehrern. dpa
