FRANKFURT/MAIN. Wie sieht in der Coronakrise der rechtlich gebotene Arbeits- und Gesundheitsschutz für Lehrer und anderes Schulpersonal aus? „Neben den allgemeinen rechtlichen Grundlagen stellen sich viele individuelle Fragen. Besondere Probleme verursacht der Themenkomplex der sogenannten Risikogruppen. Muss ich, darf ich, soll ich? Das sind die Fragen, die uns besonders häufig erreichen“, erklärt die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe. Um fundierte Antworten geben zu können, hat die Gewerkschaft ein dreiteiliges Gutachten beim renommierten Rechtsprofessor Wolfhard Kohte von der Universität Halle-Wittenberg in Auftrag gegeben. Der spart darin nicht mit Kritik an Landesregierungen.
„Hygiene ist unteilbar“, so schreibt Kohte in dem Papier. „Hygienedefizite im Bereich der Schülerinnen und Schüler können auch die Gesundheit der Lehrkräfte beeinträchtigen.“ Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts sei wegweisend für den Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Schule. Der Fall: Eine Lehrerin erkrankte durch einen Hepatitis-C-Virus, der durch infizierte Schüler übertragen worden war. Das Gericht sah im mangelnden Infektionsschutz eine Pflichtverletzung der Schule, die im konkreten Fall zu einem Schadensersatzanspruch der Lehrerin führte. Kohte: „Damit gehört der Hygieneschutz im Schülerbereich auch zu den Pflichten des Arbeitgebers/Dienstherrn gegenüber den Lehrkräften, deren Einhaltung vom jeweiligen Personalrat zu überwachen ist.“
Laschets Statement war “rechtlich deutlich verfehlt”
Dienstherr und Schulträger hätten beim Gesundheitsschutz miteinander zu kooperieren und ein gleiches Sicherheitsniveau zu gewährleisten. „Es war daher rechtlich deutlich verfehlt, dass der Ministerpräsident Laschet in der Sendung ‚Anne Will‘ am 26.4.2020 meinte, dass er für die offenkundigen Versäumnisse einiger Schulträger nicht zuständig sei. Als Arbeitgeber/Dienstherr hat das jeweilige Bundesland die ganzheitliche Hygiene sicherzustellen“, befindet Kohte.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte in der Talk-Show erklärt: „Ich hab‘ mich auch gewundert, dass man nach Ostern sagt, wir werden nächste Woche die Abiturienten wieder in die Schule kommen lassen, und dann alle sagen: Aber da sind wir gar nicht drauf vorbereitet.“ Einen Anlass, den Schulstart zu verschieben, sah die schwarz-gelbe Landesregierung darin jedoch nicht (News4teachers berichtete ausführlich über den bemerkenswerten Auftritt – und zwar hier).
Ein effektiver Hygieneplan, so Kohte, sei auf der Ebene der jeweiligen Schule aufzustellen und zu realisieren. „Ein Rahmenplan kann die im Gesetz vorgesehene Aufgabe nicht erfüllen, sondern nur eine Hilfestellung für die Arbeit am konkreten schulbezogenen Hygieneplan geben. Deswegen war es organisatorisch unzureichend, dass zum Beispiel in Berlin am Freitag, dem 24.4.2020, nachmittags der Rahmen-Hygieneplan für die zum Montag, dem 27.4.2020, vorgesehene Teilöffnung von Schulen versandt wurde.“ Kohte betont: „Die schulischen Akteure benötigen einen angemessenen Zeitraum, um den Hygieneplan vor der Öffnung der Schule zu aktualisieren.“
Wenn Schüler Plätze wechseln, muss desinfiziert werden
Und wie muss ein Hygieneplan konkret aussehen? Raumtechnisch sei sicherzustellen, so Kohte, dass kein Wechsel stattfinde und jede Schülerin und jeder Schüler während der eigenen Unterrichtszeit denselben Platz einnehme. Platzwechsel durch Schichtarbeit seien stets mit Reinigung und Desinfektion verbunden. Diese Anforderungen stellten sich auch bei der Organisation des Lehrerzimmers. In den Pausen werde ausreichender Abstand nur bei versetzten Unterrichtsunterbrechungen realisierbar sein. Durch zeitversetzten Unterricht seien darüber hinaus die Auswirkungen auf den Stundenplan und damit die Arbeitszeit der Lehrkräfte zu beachten.
Weiter heißt es in dem Gutachten: „Besonders gefährdete Risikogruppen müssen gegen die speziell sie bedrohenden Gefahren geschützt werden‘ – so eindeutig ist die unionsrechtliche Vorgabe in Artikel 15 der RL 89/391/EWG, der Rahmenrichtlinie für den Arbeitsschutz, die bis heute als ‚Grundgesetz des betrieblichen Arbeitsschutzes‘ gilt.“
Wer gehört zur Risikogruppe? Kohte verweist auf die Liste des Robert-Koch-Instituts (RKI) – und zitiert daraus: „Dazu zählen insbesondere Menschen mit vorbestehenden Grunderkrankungen wie
- Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck)
- chronische Erkrankungen der Lunge (z.B. COPD)
- chronischen Lebererkrankungen
- Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
- Krebserkrankungen
- ein geschwächtes Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr beeinflussen und herabsetzen können, wie z.B. Cortison).“
In der Mehrzahl der Bundesländer sei diese Liste des RKI für die Bestimmung der Risikogruppen übernommen worden. Das sei im Grundsatz auch sachgerecht, so befindet der Jurist. „Allerdings ist zu beachten, dass diese Liste nicht abschließend ist, wie der Begriff ‚insbesondere‘ zeigt. Einige Berichte zeigen, dass gerade bei psychischen Beeinträchtigungen eine Pandemiesituation besondere Probleme schaffen kann, so dass sich daraus zusätzliche Risiken ergeben können.
Heikel: Lehrer mit Angehörigen, die zu Risikogruppen zählen
Auch ältere Menschen gehören zur Corona-Risikogruppe. „Im Unterschied zu den RKI-Hinweisen, die relativ offen einen Korridor zwischen 50 und 60 Jahren nennen, greifen die Bundesländer jeweils auf die Altersgrenze von 60 zurück“, so stellt der Gutachter fest. Das wird von diesem allerdings nicht beanstandet. Heikel ist ihm zufolge jedoch, dass manche Bundesländer Lehrer nicht vom Schuldienst befreien, die mit Menschen aus den Risikogruppen zusammenleben. Hier mahnt Kohte eine einzelfallbezogene Lösung an. Es sei „zumindest geboten, dass durch eine ärztliche Bescheinigung dieses Problem an die Dienststelle herangetragen wird und eine entsprechende Versetzung/Arbeit im Homeoffice für solche Beschäftigte ermöglicht wird“.
Die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe stellt in ihrem Geleitwort fest: „Es gibt kein „one fits for all“ – Rezept!“ Folgende Botschaften zieht die Gewerkschaft aus dem Gutachten:
- „Nicht ohne die Personalräte! Arbeits- und Gesundheitsschutz ist eine Frage der zwingenden Mitbestimmung. Wo es vor Ort keine Arbeitssicherheitsausschüsse gibt, sollten Krisenstäbe o.ä. eingesetzt werden.“
- „Lasst die Schulen nicht allein! Es muss Schluss sein mit dem Schwarze-Peter-Spiel zwischen kommunalen Schulträgern und Arbeitgeber/Dienstherr Land. Alle Akteure sind gesetzlich verpflichtet, beim Infektionsschutz konstruktiv zusammenzuarbeiten.“
- „Arbeitgeber haben eine Fürsorgepflicht! Jeder Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, Risikogruppen zu schützen und sie über ihre Rechte zu informieren. Dazu gehört auch, Risikogruppen gemeinsam mit den Interessenvertretungen zu definieren.“
- „Nicht ohne die Interessenvertretungen! Bei der Bestimmung von Risikogruppen und bei der Festlegung eines innerbetrieblichen Verfahrens zum Schutz der Kolleginnen und Kollegen ist der Personalrat in der vollen Mitbestimmung. Auch die Schwerbehindertenvertretung ist zu beteiligen.“
- „Risikogruppe schließt auch Kontaktpersonen mit ein! Wer mit einer Person zusammenlebt, die einer Risikogruppe zugehörig ist, hat unter Umständen Anspruch auf eine Freistellung oder Umsetzung. Dies ist von der Intensität der Gefährdung abhängig und deshalb als Einzelfall zu untersuchen.“ News4teachers
Hier lässt sich das dreiteilige Gutachten im Auftrag der GEW herunterladen.
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
Schulöffnungen: Gebauer macht Schulträger für Hygiene-Mängel verantwortlich
