BERLIN. In immer mehr Bundesländern – aktuell: Nordrhein-Westfalen – fällt die bislang geltende Abstandsregel von 1,50 Metern weg, um in Schulen wieder normalen Unterricht im Klassenverbund anbieten zu können. Wieso muss in relativ engen Klassenräumen mit Lehrkraft und 30 Kindern nicht beachtet werden, was in jedem weitläufigen Supermarkt in Deutschland gilt? VBE-Chef Udo Beckmann spricht von einem „Spiel mit dem Feuer“. Auch aus Reihen der Elternschaft wird Unverständnis laut.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) macht sich Sorgen um die Corona-Disziplin der Deutschen. „Ich werde unruhig, wenn Menschen glauben, wir brauchen die Abstandsmaßnahmen nicht mehr. Die brauchen wir“, sagte sie gestern Abend im ZDF. Sie glaube, dass Grundmaßnahmen nach wie vor eingehalten werden müssten. „Ein Meter fünfzig. Dort, wo man die nicht einhalten kann: Maske tragen. Das ist absolut notwendig“, so Merkel. Das werde so lange auch so bleiben, bis es einen Impfstoff oder ein Medikament gebe.
Giffey: Abstandsregel nicht zu halten – “so ehrlich müssen wir sein”
Umso bemerkenswerter, dass dies in vielen Schulen Deutschlands plötzlich nicht mehr gelten soll. Etliche Bundesländer – aktuell Nordrhein-Westfalen und, nach den Sommerferien, Rheinland-Pfalz – haben angekündigt, auf die Abstandsregel zumindest in den Grundschulen verzichten zu wollen. Tatsächlich ist ein Normalbetrieb in Klassenstärke nicht möglich, solange die Abstandsregel in Kraft gesetzt bleibt. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sagte im Inforadio vom rbb am Freitag, wenn Kitas und Schulen wieder in vollem Betrieb fahren, „dann ist einfach die 1,5-Meter-Abstandsregel nicht zu halten (…) dann muss man verantworten, dass 1,5 Meter Abstand nicht mehr gelten, so ehrlich müssen wir einfach sein.“ Die Klassenräume sind dafür schlicht nicht groß genug.
Gleichwohl befürwortet Giffey weitere Schulöffnungen. „Das ist natürlich im Interesse der Kinder. Kinder brauchen Kinder. Wir müssen wieder zu Öffnungsschritten kommen, aber eben so, dass es verantwortbar ist (…) dann unterstütze ich jedes Bundesland (…), im Interesse der Kinder zuerst, aber auch natürlich der Eltern.“ Das sehen allerdings nicht alle Eltern so. Die Landeselternkonferenz NRW kritisiert die für Nordrhein-Westfalen angekündigte Rückkehr zum Regelbetrieb an den Grundschulen ab dem 15. Juni als „unsinnig“. Es drohe eine „Vollkatastrophe“, wenn nun ohne Abstandsregelung unterrichtet werden solle. Es sei zu befürchten, dass es zu Ansteckungen komme. „Dann beginnen die Ferien für viele Familien erst mal mit einer zweiwöchigen Quarantäne.“
Experimente mit Schülern und Lehrern
Auch von Lehrerseite kommt scharfe Kritik am Wegfall der Abstandsregel in Schulen. „Bei allem Verständnis für die Sorgen und Nöte der Eltern, halte ich es für ein Spiel mit dem Feuer, wenn immer mehr Länder komplette Schulöffnungen, wie jetzt auch in Nordrhein-Westfalen, unter Aufgabe von Abstandsregeln verfügen“, sagt VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann und fordert: „Mit Kindern und Jugendlichen sowie den Beschäftigten in Schule dürfen keine Experimente gemacht werden.“
Zwar sei das Abstandhalten ein hoher logistischer Aufwand und ein starker Eingriff in das soziale Miteinander, doch laut aktuellen Erkenntnissen aus der Wissenschaft noch immer eine tragende Säule der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus. „Es ist fahrlässig, Einschätzungen wie die des Virologen Drosten, Kitas und Schulen ‚nur unter größter Vorsicht und sorgfältiger Überwachung‘ wieder zu öffnen, außer Acht zu lassen“, meint Beckmann.
Er bemängelt: „Zum einen liegen noch gar nicht ausreichend Forschungsergebnisse vor, die diesen Schritt begründen. Zum anderen ist es eine Farce, wenn in jedem Supermarkt die Zahl der Personen begrenzt wird, an der Kasse Abstand gehalten werden muss und man durch eine Plexiglasscheibe vom Verkaufspersonal getrennt ist – aber an Schule auf weniger Raum kein Abstand eingehalten werden muss und kein extra Schutz der Lehrkräfte installiert wird.“
Drosten-Studie: Hinweise auf erhebliche Virsenlast auch bei Kindern
Prof. Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité, hatte in einer überarbeiteten Fassung seiner Studie zur Infektiosität von Kindern in der Corona-Krise an seiner grundlegenden Aussage festgehalten. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Kinder im Bezug auf Sars-CoV-2 nicht genauso ansteckend seien wie Erwachsene (News4teachers berichtete ausführlich über die Studie – und zwar hier). Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezieht sich ausdrücklich auf diese Arbeit, wenn sie gegenüber dem „Spiegel“ erklärt, die aktualisierte Analyse bestätige «Hinweise auf eine erhebliche Virenlast bei infizierten Kindern». Das müsse man beachten. «Die Schulen sollten weiter unbedingt auf den Gesundheitsschutz achten, damit dort verlässlicher Präsenzunterricht angeboten werden kann – selbst wenn dies im Wechsel zu einem digitalen Unterricht geschieht.»
Karliczek: «Solange wir noch keinen Impfstoff gegen Covid-19 haben, muss auch an den Schulen weiter allergrößte Vorsicht herrschen, um strukturierten Unterricht anbieten zu können.» Nur: In immer mehr Bundesländern wird diese Warnung überhört. News4teachers / mit Material der dpa
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