STUTTGART. Eine Studie von vier baden-württembergischen Universitätskliniken zu Corona-Infektionen unter Kindern wird von Kultusministern bundesweit zur Begründung hergezogen, warum weite Schulöffnungen nach den Sommerferien möglich sind. Tatsächlich hatte einer der Studienautoren bei der Präsentation erklärt: „Kinder sind nicht als Treiber der Infektion anzusehen.“ Mittlerweile allerdings äußert er sich deutlich weniger forsch. Er will weder ausschließen, dass sich Kinder mit dem Coronavirus infizieren – noch, dass Schulen sich zu Hotspots entwickeln werden.
Der Direktor der Kinderklinik in Ulm, Prof. Klaus-Michael Debatin, lehnte sich bei einer Pressekonferenz am 16. Juni in Stuttgart weit aus dem Fenster. Er sagte: „Kinder sind weniger angesteckt als ihre Eltern und damit auch, soweit man das sagen kann, nicht als Treiber der Infektion anzusehen.“ Der Anlass: die Präsentation einer gemeinsamen Studie von vier Universitätskliniken, die die Landesregierung in Auftrag gegeben hatte; Debatin ist einer der Autoren. Ihm zufolge ist die Studie mit 5000 Teilnehmern eine der größten weltweit. „Die Daten tragen gemeinsam mit den Ergebnissen anderer Studien aus dem In- und Ausland zur Einschätzung bei, welche Rolle Kinder bei der Ausbreitung der Corona-Pandemie spielen“, so erkärte der Mediziner weiter. „Insgesamt scheinen Kinder demnach nicht nur seltener an COVID-19 zu erkranken, was schon länger bekannt ist, sondern auch seltener durch das SARS-CoV-2-Virus infiziert zu werden.“
Nach den Schulschließungen kaum noch infizierte Kinder
Was er auf der Pressekonferenz dagegen nicht nach vorne kehrte: Unter den 5.000 Teilnehmern der Studie wurden nur wenige Infizierte ausgemacht. Im Untersuchungszeitraum von 22. April bis 15. Mai war aktuell nur ein einziges Elternteil-Kind-Paar infiziert. Immerhin 64 Getestete hatten Antikörper gebildet und weitgehend unbemerkt eine Corona-Infektion durchlaufen, was einer Häufigkeit von 1,3 Prozent entspricht. Darunter befanden sich 45 Erwachsene und 19 Kinder. Die Datenbasis der Untersuchung ist also klein.
Der Befund, dass sich nach den Schulschließungen am 17. März wohl kaum noch Eltern und Kinder infiziert hatten – vorher offenbar schon –, blieb zudem unbeachtet. In Hamburg, wo eine ähnliche Studie unter 5.000 Kindern aus der Hansestadt zu einem nahezu identischen Ergebnis gekommen war, führte dies jedoch zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung der dortigen Studienautoren: nämlich „dass die Lockdown-Maßnahmen für die Kinder und Jugendlichen in Hamburg erfolgreich waren“ (News4teachers berichtete ausführlich über die Hamburger Studie – hier). Im Umkehrschluss bedeutet das: Ohne die Schulschließungen hätte es weit mehr Infektionen gegeben, auch unter Kindern – Schulöffnungen hingegen bergen dann logischerweise das Risiko, dass das Infektionsgeschehen wieder angeheizt wird.
Davon war auf der Pressekonferenz in Stuttgart allerdings keine Rede – im Gegenteil. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) kündigten die zeitnahe weite Öffnung der Kitas und Grundschulen in Baden-Württemberg an.
“Somit können wir auf die Abstandsgebote verzichten”
„Ermöglicht wird diese Rückkehr zu einem Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen durch die ersten Ergebnisse der Kinderstudie“, so heißt es in einer begleitenden Pressemitteilung. Deren Ergebnisse habe die Befunde anderer internationalen Studien bestätigt. „Danach spielen Kinder unter zehn Jahren eine sehr viel geringere Rolle im Pandemiegeschehen als ursprünglich angenommen. Sie erkranken deutlich seltener und haben dann meist mildere Verläufe mit wenigen oder gar keinen Symptomen.“ Kretschmann und Eisenmann werden dann mit einem gemeinsamen Statement zitiert: „Somit können wir in dieser Altersgruppe auf die Abstandsgebote verzichten, so dass an den Grundschulen ein Unterricht in einem Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen möglich ist.“
Auch in anderen Bundesländern werden mit der baden-württembergischen Studie weite Schulöffnungen ohne Abstandsregeln gerechtfertigt. Das Schulministerium Nordrhein-Westfalen beispielsweise führt sie in einer Schulmail als einzige Forschungsarbeit namentlich an, um die Rückkehr zum schulischen Regelbetrieb nach den Sommerferien zu begründen. Dabei wurde schon unmittelbar nach Veröffentlichung der Studie Kritik an der weitgehenden Schlussfolgerung laut.
Grundsätzlich äußerte sich Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité: Das Problem solcher „Haushaltsstudien“, die auf Mikroebene Infektionswege individuell nachvollziehen wollen, sei, dass ihre Daten allesamt erst nach den Schulschließungen erhoben wurden, als das Infektionsgeschehen bereits nahe null war. Entsprechend klein sind die dokumentierten Fallzahlen. Untersuchungen, deren Daten unter Lockdown-Bedingungen erhoben worden seien, könnten aber nicht „das anzeigen, was man später sehen wird“, erklärte Drosten – also das, was sich nach den Öffnungen zeigt. „Nach einem Lockdown verteilt sich das Virus anders in Altersgruppen. Wir werden eine andere Situation haben, wenn wir aus den Sommerferien herauskommen.“
“Schließt nicht aus, dass ich infizierte Kinder in der Schule habe”
Mittlerweile klingt auch Debatin nicht mehr so forsch wie bei der Präsentation der Studie im Beisein der Politiker. „Wir haben nie gesagt, dass sich Kinder nicht anstecken können, auch nicht, dass sie andere nicht infizieren, aber eben deutlich weniger als Erwachsene“, sagte er vor drei Tagen in einem Interview mit dem Südwestfunk. „Unser Anliegen war, Folgendes zu untersuchen: Wenn ich Eltern und Kinder anschaue, wie ist die Rate der Infektionen? Sie ist bei den Eltern deutlich höher als bei den Kindern. Daraus kann man eigentlich schließen, dass die Kinder nicht zu den primären Treibern gehören, was nicht ausschließt, dass ich infizierte Kinder in der Schule habe. Die Fälle muss man genau analysieren“, erklärte er.
Und: „Die Schulöffnung, das geht jetzt nur, wenn man wirklich genau hinschaut. Kitas müssen sich darum kümmern, dass die geringe Infektionsrate, die wir im Moment haben, auch so bleibt. Und wir werden das mit Sicherheit ein Jahr lang so weiterführen müssen. Es gibt nur einen ‚sicheren Modus‘, der verhindert, dass infizierte Kinder in der Schule sind: Ein Jahr lang die Schulen und Kindergärten zu schließen.“
Auch möglich, dass sich Schulen zu Corona-Hotspots entwickeln
Auch dass sich Schulen zu Corona-Brennpunkten entwickeln könnten, mag der Professor keineswegs ausschließen – er rechnet sogar augenscheinlich damit. Auf die Frage, unter welchen Umständen Kitas und Schulen wieder schließen müssten, antwortet Debatin: „Wenn die Infektionsrate hochgeht und wenn wir tatsächlich Hotspots in Schulen haben. Deshalb meine Anregung: Nutzen Sie alle die Zeit der nächsten Wochen, die Schulferien, um sich auf den Winter und im Herbst vorzubereiten. Denn wir werden im Herbst wahrscheinlich eine höhere Rate an Infektionen haben. Es spricht alles dafür. Das Virus freut sich über Kälte wie alle Erkältungsviren.“
Solche Aussagen waren auf der Pressekonferenz nicht zu hören. News4teachers
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