BERLIN. Werden Aerosole als Überträger des Coronavirus von verantwortlichen Politikern unterschätzt? Die Berliner Bildungsverwaltung jedenfalls hat die Schulen offenbar gegen ausdrücklichen Expertenrat ohne Abstandsregel und Maskenpflicht geöffnet. Martin Kriegel, Professor an der TU Berlin und Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts für Energietechnik, der mit einer Studie zur Verteilung von Aerosolen in geschlossenen Räumen für Aufsehen sorgte, wurde nach seinen Angaben von Beate Stoffers, Staatssekretärin von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) kontaktiert. Er habe sie eindringlich vor Unterricht im schulischen Normalbetrieb gewarnt, berichtet Kriegel – folgenlos.
Im Hygieneplan der Kultusministerkonferenz zu den Schulöffnungen nach den Sommerferien heißt es: „Es ist auf eine intensive Lüftung der Räume zu achten. Mindestens alle 45 min ist eine Stoßlüftung bzw. Querlüftung durch vollständig geöffnete Fenster über mehrere Minuten vorzunehmen, wenn möglich auch öfter während des Unterrichts.“ Entsprechend lauten die Regelungen in den einzelnen Bundesländern.
Reicht der magere Hinweis aus, um die Belastung der Luft mit möglichen Coronaviren zu beseitigen? Nein – sagt einer, der es wissen muss: Prof. Martin Kriegel forscht seit Jahren zum Thema Luftverschmutzung und -verteilung – und hat eine aktuelle Studie zu Aerosolen vorgelegt, winzigen Teilchen also, die in der Raumluft schweben und das Coronavirus mit sich tragen. Ergebnis der Untersuchung, wie Kriegel gegenüber der „Berliner Zeitung“ erklärt: „Aerosole verteilen sich in einem geschlossenen Raum innerhalb von zwei oder drei Minuten überall.“ Das bedeutet: In einem Klassenraum kann ein einziger infizierter Mensch jeden anderen darin anstecken.
Hygienepläne sehen es vor, die Fenster der Klassenräume regelmäßig aufzureißen
Warum reicht es nicht, regelmäßig die Fenster aufzureißen, wie es die Hygienepläne der Länder für die Klassenräume vorsehen? „Es ist leider überhaupt nicht kontrollierbar, wie viel frische Luft durch ein geöffnetes Fenster hereinkommt. Das hängt von der Windgeschwindigkeit ab, von den Temperaturen außen und innen…“, erklärt der Wissenschaftler in einem Interview mit der „taz“.
„Manchmal geht im Sommer aufgrund der Wetterlage gar nichts durch. Und die Menge ist generell nicht sehr groß. Stoßlüften etwa ist häufig nur in den Pausen möglich. Eine andere Gefahr: Wir als Laien verbinden die Menge an Frischluft mit der gefühlten Temperatur. Wenn es also angenehm kalt ist, gehen wir davon aus, dass auch genug Frischluft da ist. Im Winter reicht das meist aber nicht aus, um die Aerosole aus dem Raum hinaus zu transportieren.“
Wie lange müsste man denn dann ein Klassenzimmer lüften, um die Luft wirklich sauber zu bekommen? Fünf Minuten lang ein Fenster offen stehen zu lassen, wie es in vielen Unterrichtsräumen wohl spätestens im Winter praktiziert werde, reichten auf gar keinen Fall, sagt Kriegel. „Durchzug beschleunigt den Prozess. Geht Lüften nur einseitig, dauert es länger. Es müssten mindestens 10 bis 15 Minuten nach einer Schulstunde gelüftet werden. Aber mit voll aufgerissenen Fenstern und leerem Klassenzimmer!“ Am besten wären laut Kriegel dauerhaft geöffnete Fenster, das aber ist spätestens im Herbst unrealistisch. Den Professor beunruhigt, dass der Musterhygieneplan keine genauen Lüftungszeiten nennt: „Die meisten Leute haben keine Ahnung, wie lange es dauert, bis wirklich die gesamte Raumluft ausgetauscht ist“, sagt er gegenüber der „Berliner Zeitung“. „Die denken, es sei vollständig gelüftet, sobald es kalt wird oder die Luft frisch riecht. Aber das stimmt nicht.“
Der Professor empfiehlt Lehrern den Einsatz von CO2-Messgeräten
Weil es keine einfache Möglichkeit gibt, Aerosole im Raum zu messen, empfiehlt er in Klassenzimmern den Einsatz von CO2-Messgeräten. Mittels der Ampelfarben signalisieren sie die Qualität der Raumluft. Grün bedeutet „Alles in Ordnung“, gelb heißt „Es wird stickig“, und rot: „Alle Fenster auf – schnell“. Kriegel: „Übrigens war auch die Lage vor Corona schon unverantwortlich wegen der hohen Kohlendioxidkonzentration: Viele Untersuchungen zeigen, dass da alle Grenzwerte stark überschritten werden. Und da sich CO2 ähnlich verhält wie Aerosole, ist das ein Beleg, dass sich auch deren Konzentration nicht ausreichend verringert.“
Allerdings hilft auch Lüften nicht dagegen, dass Aerosole überhaupt entstehen und das Coronaviurs mit sich tragen, so erklärt Kriegel in einem Interview mit dem rbb. „Dennoch muss man sich ja vorstellen, dass, wenn wir ausatmen und sprechen, immer eine Aerosol-Wolke aus dem Mund rauskommt. Und wenn wir keine Maske tragen, kommt sie in einer hochkonzentrierten Form raus. Wenn die Tische derart aufgestellt werden, dass Personen mir gegenüber sitzen, oder wenn ich mit meinen Nachbarn spreche, bekommt er jedes Mal diese Aerosol-Wolke ab. Das ist natürlich nicht so sinnvoll. Die Maske verhindert, dass die Aerosole unkontrolliert nach vorne ausströmen. Dennoch gelangen die Partikel in die Raumluft. Und dafür ist das Lüften gedacht, dass diese Aerosole, die trotzdem im Raum sind, aus dem Raum rausgetragen werden.“
Weiter betont er: „Je weiter die Personen voneinander entfernt sind, desto geringer ist das Risiko, weil diese Tröpfchen dann schon zu Boden fallen. Und die Aerosole verdünnen sich mit dem Abstand zu der jeweiligen Person. Insofern ist jeder Abstand gut.“
Regelbetrieb an Schulen? „Nicht unter den alten Bedingungen“
Kriegel betont deshalb mit Blick auf die Schulen: „Ich verstehe die Entscheidung nicht, auf Masken und Abstand zu verzichten.“ Berlins Bildungs-Staatssekretärin Stoffers habe er dringend davon abgeraten – ohne Erfolg. Der Forscher betont: „Es kann Regelbetrieb in Schulen geben, aber nicht unter den alten Bedingungen. Die aktuellen Vorgaben finde ich nicht gut umgesetzt. Ein erster Schritt wären längere Pausen, um mehr lüften zu können. Ich hoffe, dass die Rektorinnen und Rektoren aus Berlin und anderen Bundesländern, die mich derzeit um Rat fragen, eine andere Entscheidung für ihre Schule treffen.“ News4teachers
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Stoßlüften im Klassenraum reicht offenbar nicht aus: Drosten warnt vor Aerosolen

