OLDENBURG. Heftige Gefühlsausbrüche von Grundschülern sind längst keine Seltenheit mehr. Die Oldenburger Bildungswissenschaftlerin Juliane Schlesier schlägt vor, eine Art Emotionsunterricht in die Lehrpläne aufzunehmen.
Grundschullehrer erleben häufig Unterrichtssituationen, in denen Schüler emotional reagieren. Das anschließende Wechselspiel zwischen der Reaktion der Lehrkraft und dem Verhalten des Kindes läuft meist nach einem festen Schema ab, so das Ergebnis einer Studie der Bildungswissenschaftlerin Juliane Schlesier von der Universität Oldenburg.
Mal ärgert sich ein Kind, weil es eine Aufgabe nicht versteht, und beginnt aus lauter Frust, seinen Nachbarn mit dem Stift zu piken. Ein anderes Kind hat Angst vor Mathe und fängt an zu weinen, weil es an der Tafel etwas vorrechnen soll. Jeder Grundschullehrer kann Geschichten über Schüler erzählen, die ihre Gefühle nur schlecht kontrollieren können. Emotionen und ihre Regulation seien ein Klassiker der pädagogischen Forschung, so Schlesier. „Die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schulkind hat in Studien dabei bislang jedoch keine Rolle gespielt“, sagt sie.
Die Wissenschaftlerin analysierte in ihrer Doktorarbeit Interviews mit 31 Grundschullehrern zum Thema Emotionsregulation. Sie fragte danach, wie Schüler positive und negative Gefühle regulierten, von Freude, Hoffnung oder Stolz über Langeweile bis hin zu Ärger, Angst, Scham oder Hoffnungslosigkeit.
Anhand der Ergebnisse entwickelte die Forscherin ein Modell, um die Interaktion von Lehrkräften und Schulkindern zu beschreiben. Demnach laufen Unterrichtssituationen, in denen Kinder emotional reagieren, häufig nach dem gleichen Muster ab. Auf einen Auslöser – ein Kind soll beispielsweise ein Arbeitsblatt bearbeiten – entwickele es infolge seiner Interpretation dieser Situation eine Emotion, etwa Ärger oder Angst. Kann das Kind diese Emotion selbstständig regulieren, fülle es den Zettel – wenn auch vielleicht widerwillig – aus. Es ist aber auch eine für den Schulunterricht unangemessene Reaktion möglich: Das Kind verweigert beispielsweise die Arbeit oder fängt an zu schreien. Auf dieses Verhalten reagierten wiederum die Lehrer: Oft machten sie sich Gedanken über die Ursache des Gefühlsausbruchs, müssten gleichzeitig aber auch eigene Emotionen wie Hilflosigkeit oder Stress verarbeiten.
Um den kindlichen Ärger zu beschwichtigen, griffen sie zu verschiedensten Maßnahmen – sie wiesen das Kind zurecht oder schickten es vor die Tür, erklärten die Aufgabe noch einmal, sprächen dem Kind Mut zu oder nähmen es in den Arm. Je nachdem, ob es daraufhin sein Verhalten ändert oder nicht, könne sich der gesamte Prozess ein- oder mehrmals wiederholen. Am Ende könne eine solche Situation positiv für das Kind und die Lehrkraft ausgehen – das Kind traut sich die Aufgabe doch zu, die Lehrkraft freut sich darüber – oder auch negativ: Das Kind lässt sich nicht beruhigen, muss womöglich von den Eltern abgeholt werden, die Lehrkraft wäre mit ihren pädagogischen Mitteln am Ende.
Eine inhaltliche Analyse der Interviews ergab, dass Ärger die häufigste kindliche Emotion in den Situationen sei, die die Lehrkräfte schilderten, gefolgt von Angst und Trauer. Positive Emotionen wie Stolz, Lernfreude oder Hoffnung kämen in den Berichten der Lehrer dagegen deutlich seltener vor.
Schlesier folgert aus ihren Ergebnissen, dass es sinnvoll wäre, eine Art Emotionsunterricht in die Grundschullehrpläne aufzunehmen, in dem sich Kinder emotionale Kompetenzen aneignen könnten: „Dort könnten sie lernen, die eigenen Gefühle besser zu erkennen, auszudrücken und Verständnis für die Gefühle anderer aufzubringen“, sagt die Lehr- und Lernforscherin. Es sei durch viele Studien belegt, dass emotional kompetente Kinder erfolgreicher in der Schule sind, oft eine bessere Beziehung zum Lehrer und zu ihren Mitschülern haben und über ein größeres Selbstbewusstsein verfügen als Schulkameraden, die ihre Gefühle weniger gut im Griff haben.
Darüber hinaus sollten angehende Lehrer Schlesiers Meinung nach bereits im Studium erfahren, wie sie Schulkinder dabei unterstützen können, ihre Gefühle besser wahrzunehmen und zu steuern. Und: „Lehrkräfte brauchen außerdem mehr alternative Handlungsmöglichkeiten, wenn ein Kind im Unterricht Ärger empfindet“, ist ihre Überzeugung. Anstatt ein störendes Kind zu isolieren – wie es häufig geschieht – sei es zum Beispiel auch möglich, es durch andere Aufgaben abzulenken oder die gesamte Klasse für einige Minuten mit einer Bewegungsaufgabe zu beschäftigen. Die Forscherin will nun untersuchen, welche Interventionsmöglichkeiten hierbei am erfolgreichsten sind. (zab, pm)
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