Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
DÜSSELDORF. Restaurants, in denen Masken getragen sowie Hygiene und Abstand eingehalten werden, Fitness-Studios, die zusätzlich mobile Luftfilter angeschafft haben und Kinos, die über modernste Lüftungsanlagen verfügen, sollen schließen – und Schulen, in denen es allzu häufig aufgrund fehlender Waschbecken schon bei der Hygiene hapert, in denen weder Maskenpflicht noch Abstandsregel im Unterricht gelten, machen weiter wie zuvor? Das muss man nicht verstehen.
Die Regierenden in Deutschland waren in der ersten Welle der Pandemie dafür gelobt worden, sich die Empfehlungen der Fach(!)-Wissenschaft, aka Virologie, sehr genau angehört und danach gehandelt zu haben. Das ist seit dem gestrigen Gipfel von Ministerpräsidenten und Kanzlerin vorbei.
Der Einfluss insbesondere von Ärzte-Lobbys, die auch die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder vertreten, hat massiv dazu beizutragen, das Blatt zu wenden. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte zum Beispiel beklagte – an anderer Stelle natürlich – die gravierenden Umsatz-Einbußen der Praxen während der Schulschließungen. Und er gab dann eine Stellungnahme mit heraus, in der auf weite Schulöffnungen gedrängt wird. Diese Stellungnahme von Mai taucht in dieser Woche wieder auf: Die Kultusministerkonferenz beruft sich in einem aktuellen Papier zu den steigenden Infektionszahlen darauf – und begründet damit, warum weitere Schutzmaßnahmen in Schulen nicht nötig sind.
Überspitzt gesagt: Da hätte man auch den Verband der Automobilindustrie einbeziehen können. Der hat eine ähnliche Interessenlage – und in Sachen Virologie genauso wenig Expertise.
KMK: Schulen “sind als sichere Orte anzusehen” – wie kommen die Kultusminister darauf?
Dieser Umgang mit der Pandemie ist fahrlässig. Wie gestern auf der Pressekonferenz mit der Kanzlerin erklärt wurde, lassen sich 75 Prozent der Infektionswege überhaupt nicht nachvollziehen. Wie die KMK aufgrund dieser Datenlage dazu kommt, offiziell zu erklären, „Schulen sind im Vergleich zu anderen Lebensbereichen als sichere Orte anzusehen“, bleibt ihr Geheimnis.
Daten der Gesundheitsämter in Nordrhein-Westfalen von vor den Herbstferien sprechen eine andere Sprache: Deutlich wird daraus, dass Feiern und Reisen nur noch eine geringe Rolle im Infektionsgeschehen spielen – in 43 Prozent der Fälle blieb das „Infektionsumfeld“ unklar. Die meisten der nachvollziehbaren Infektionsketten, nämlich 35 Prozent endeten in der Rückverfolgung in „privaten Haushalten“, gefolgt vom Arbeitsplatz (13 Prozent) sowie von Schulen und Kitas (11 Prozent). In sechs Prozent seien Krankenhäuser oder Pflegeheime ermittelt worden. Zieht man „unklar“ und die „privaten Haushalte“ ab (die Familien erzeugen das Virus ja nicht selbst), dann bleiben zwei große „Verteilzentren“: Arbeitsplätze und Bildungseinrichtungen. (News4teachers berichtete auführlich darüber – hier geht es zu dem Beitrag.)
Hier nicht mit verstärkten Schutzmaßnahmen anzusetzen – und stattdessen Freizeiteinrichtungen zu schließen –, dieser Beschluss von Ministerpräsidenten und Kanzlerin lässt zumindest Zweifel aufkommen, ob damit dem explodierenden Infektionsgeschehen wirklich Einhalt geboten werden kann.
Noch ein Punkt: Das Gipfel-Ergebnis, den Unterricht ungeachtet des Infektionsgeschehens weiter ohne AHA-Regeln laufen zu lassen, missachtet die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für den Schulbetrieb. Damit ist klar: Der Staat kann (und will) den Gesundheitsschutz in den Schulen nicht mehr gewährleisten. Die meisten Bundesländer pochen trotz der Corona-Pandemie auf die Schulpflicht – und bringen damit vor allem Familien mit Angehörigen aus Risikogruppen in eine bedrohliche Lage. „Das Maß der Selbstgefährdung möchte ich im Rahmen des Schulbesuchs selbst bestimmen und nicht über die Schulpflicht aufgedrängt bekommen“, betonte die herzkranke Mutter von zwei Schulkindern gegenüber News4teachers. „Das ist, als würde ich vom Staat dazu gezwungen, bei Rot über die Ampel zu fahren“ – bei stark zunehmendem Verkehr.
Schulministerin Gebauer “Wir können nicht alle Menschen schützen”
Baden-Württemberg hat bereits vor den Sommerferien die Schulbesuchspflicht aufgehoben. Eltern können dort formlos ihr Kind bei der Schulleitung für den Fernunterricht anmelden. In Nordrhein-Westfalen, wo die herzkranke Mutter mit ihrer Familie lebt, sollen Elternteile aus Risikogruppen sich gegenüber ihren Kindern zu Hause selbst isolieren.
Wie hatte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) schon im Sommer erklärt? „Wir können Menschen nicht davor schützen, an Covid-19 zu erkranken. Vielleicht muss man das auch nochmal sagen: Es wird immer Erkrankungen geben“, so Gebauer. „Wir können nur alles dafür tun, dass diese Erkrankungen so glimpflich laufen wie es irgend geht. Dafür haben wir Vorsorge getroffen, dass unsere Gesundheitsämter beziehungsweise unsere Krankenhäuser darauf vorbereitet sind, dass genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen, dass genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Aber wir können nicht alle Menschen schützen.“
Dann zieht jetzt endlich daraus die Konsequenz, Kultusminister! Hebt die Schulbesuchspflicht auf!
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.
Hier geht es zur Seite der Agentur für Bildungsjournalismus.
