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Schutzlos in der Kita – eine Erzieherin klagt an: „Ich frage mich, wie lange ich die tägliche Angst auf der Arbeit noch aushalte“

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DÜSSELDORF. Erzieherinnen und Erzieher sind weitgehend schutzlos der Pandemie ausgeliefert. Die üblichen Arbeitsschutzregeln gelten für das Kita-Personal nicht, obwohl täglich Dutzende von persönlichen Kontakten zu Kindern und Eltern unterhalten werden müssen. Selbst im Lockdown lief der Kita-Betrieb fast uneingeschränkt weiter. Bald soll der Regelbetrieb wieder aufgenommen werden. Einer Erzieherin aus Nordrhein-Westfalen platzt jetzt der Kragen. In einem Schreiben an Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und NRW-Familienminister Joachim Stamp, das wir an dieser Stelle dokumentieren, macht sie ihrer Empörung Luft.

Es reicht! Illustration: Shutterstock

Sehr geehrte politische Entscheidungsträger,

sehr geehrte Frau Giffey, Herr Laschet und Dr. Stamp,

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ich arbeite seit über 15 Jahren als Erzieherin. Ich habe mich für diesen Beruf entschieden, in dem Bewusstsein um die schlechte Bezahlung, die schlechten Rahmenbedingungen und aus voller Überzeugung. Erzieher sind verschrien als Idealisten und ja, das müssen wir auch sein, sonst würden wir unter den Bedingungen, die zu einem Großteil in deutschen Kitas herrschen, nicht einen Tag überstehen. Trotz Allem liebe ich meine Arbeit. Kinder zu fördern und zu unterstützen, ihre Familien zu begleiten, erste Bildungsangebote zu kreieren, all dies kann sehr erfüllend sein.  Was allerdings momentan passiert und von Ihnen für die Kitas in Deutschland und speziell NRW entschieden wurde, erschüttert mich zutiefst. Nach jeder neuen Pressekonferenz, nach jeder öffentlich gemachten Entscheidung der letzten Monate für den Bereich der Kindertagesstätten, türmen sich die Sorgen der Erzieher*innen immer höher.

Aus guten Gründen wurde ein erneuter Lockdown für ganz Deutschland beschlossen. Ich unterstütze dies im Privaten, so gut ich kann. Beruflich kann ich rein gar nichts zur Kontaktreduzierung beitragen. Herr Laschet und Dr. Stamp haben nämlich entschieden, die Kitas in NRW weiter geöffnet zu lassen. Dem Appell, die Kinder zuhause zu betreuen, folgen angeblich 70 Prozent der Eltern. In keiner Kita unseres Trägers können wir dies bestätigen.

Die Eltern argumentieren, dass sie das Recht haben, die Kinder zu uns zu bringen – und deshalb tun sie es auch

Hier zeigt sich ein anderes Bild: Gruppen, die zu 60 bis 80 Prozent gefüllt sind, an einzelnen Tagen eine Auslastung von 100 Prozent. In den umliegenden Kitas ist es ähnlich. Die Eltern argumentieren, dass sie das Recht haben, die Kinder zu uns zu bringen und deshalb tun sie es auch. Und da haben sie auch völlig Recht: Denn Sie haben es ihnen ganz klar erlaubt. Systemrelevant ist nur ein Bruchteil der Elternschaft in den Kitas unseres Trägers. Keine Einrichtung liegt in einem sozialen Brennpunkt und kein*e Erzieher*in würde jemals ein Wort darüber verlieren, Kinder zu betreuen, deren Wohl zuhause in irgendeiner Weise gefährdet wäre. Was aber durchaus erwähnenswert erscheint, das sind die Familien, die uns sogar ganz klar sagen, dass sie zuhause betreuen könnten. Aber sie möchten es nicht, weil Kontakte ja wichtig sind (durchaus – aber nicht zu Lockdown-Zeiten, wo wir alle keine Kontakte pflegen sollten).

Wenn Familie ABC die Betreuung in Anspruch nimmt, dann würden sie ja erst recht ein Anrecht darauf haben. Die andere Familie könnte ja noch viel eher zuhause betreuen als man selbst. Sicher, auch man selber habe auch die Gelegenheit dazu, aber so… das Kind könnte sich benachteiligt fühlen, da ja schließlich alle Freunde auch in der Kita sind. Wie soll man das denn dann dem Kind erklären, dass es selbst zuhause bleiben soll? „Wir kennen unsere Rechte! Und wir bringen unser Kind auf jeden Fall, ob wir nun zuhause sind oder nicht!!“  So kommt es durch den Appell, der den viel zitierten schwarzen Peter der Entscheidung über die Betreuung der Kinder an Eltern und Kitas abgibt, zu großen Unstimmigkeiten.

Dr. Stamp argumentiert gerne, dass es im ersten Lockdown zu Ungerechtigkeiten und Streitigkeiten kam, darüber, welche Familien systemrelevant wären. Auch diese Beobachtung können weder ich noch andere Mitarbeiter unseres Trägers bestätigen. Im letzten Jahr gab es klare Vorgaben. Nun fehlen diese komplett und gerade dies führt zu Missgunst und Streit zwischen den Familien. Die Eltern, die beruflich wirklich unabkömmlich sind, ärgern sich genauso wie wir Erzieher*innen über die übervollen Gruppen. Es wird jeden Tag genau beäugt, welche Kinder da sind. Freundschaften in der Elternschaft zerbrechen daran. Und auch das Verhältnis zwischen den Erzieher*innen und den Eltern, das vertrauensvoll und zugewandt sein sollte, leidet sehr.

Ich selbst fühle mich, wie viele Kolleg*innen, schon lange nicht mehr sicher an meinem Arbeitsplatz Kita

Ich selbst fühle mich, wie viele Kolleg*innen, schon lange nicht mehr sicher an meinem Arbeitsplatz. Jeden Tag in einer vollen Kitagruppe, mit 18 von 20 Kindern zu sein, die sich weiterhin gruppen- und einrichtungsübergreifend treffen, ist nicht leicht. Nähe zuzulassen, zu Kindern, von denen ich genau weiß, wie viele Kontakte in deren Familie gepflegt werden, ist mehr als herausfordernd. Andere Bundesländer sind der Absprache des Bund-Länder-Treffens gefolgt und haben auch Kitas wieder bis auf eine Notbetreuung geschlossen. Dort wurde ernst genommen, was leider immer noch nicht oft berichtet wurde (warum eigentlich nicht?) – dass auch Kinder durchaus infektiös sind. Die Studien dazu, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurden, werden auch Sie kennen.

Aber auch dann, wenn Familienangehörige positiv sind, bleiben die Kinder ungetestet. So bleibt bei jedem neuem Fall, der uns aus der Elternschaft der Kita bekannt wird, die Unsicherheit groß. Wurde das Virus doch schon symptomfrei weitergegeben? Gerade nach den Fällen der Virus-Mutation, die z. B. in Kölner Kitas aufgetreten sind, machen sich viele Kolleg*innen Sorgen.

Aus irgendeinem Grund werden wir Erzieher*innen nicht als Menschen mit Familien wahrgenommen. Es wird immer unterschieden: die Erzieher*innen/die Familien. Wir sind aber auch Menschen mit Familien. Familien, die wir schützen möchten. Wir selbst fahren unser Privatleben schon lange auf null herab, weil wir allein über die Kita so unglaublich viele Erst- und Zweitkontakte haben. Leider kann man dies nicht von vielen Eltern zumindest in der Kita, in der ich tätig bin, behaupten. Auch wir Erzieher*innen haben Angehörige, die Risikopatienten sind. Die Angst, sie anzustecken, ist eine tägliche unfassbare Belastung. Diese Unsicherheit führt auch zu absurden Situationen in Erzieher-Haushalten: z. B. bei Kolleg*innen, die in Patchwork-Familien leben. Da muss sich dann im eigenen Haushalt schonmal voneinander isoliert werden, um überhaupt ansatzweise die Möglichkeit zu haben, dass wenigstens der Partner sein Kind sehen darf.

Einige Kolleg*innen sind selbst Risikopatienten und waren aus gutem Grund über Monate freigestellt. Nun sind sie z. T. wieder in den vollen Gruppen. Ihre Vorerkrankung ist nicht plötzlich verschwunden, aber sie werden dringend gebraucht – bei vollem Risiko. Und wir Erzieher*innen sind auch Mütter und Väter. Wir müssen also auch entscheiden: Gebe ich mein Kind in die Kita und lasse es von anderen Erzieher*innen betreuen? Gehe ich das Risiko der zusätzlichen Kontakte von der zweiten Kita ein? Setzte ich mein Kind diesem Risiko aus? Oder komme ich mit dem reduzierten schmalen Erziehergehalt irgendwie aus, wenn ich die zusätzlichen Kindkrank-Tage nutze? Was heißt das für meine Kolleg*innen, die dann weiterhin mit 18 Kids in der Gruppe stehen?

Wir Erzieher*innen fühlen uns aufgrund Ihrer politischen Entscheidungen enttäuscht und im Stich gelassen

Die Konsequenzen sind spürbar: Die ersten Kolleg*innen können diesem Druck nicht mehr standhalten und werden zurecht krankgeschrieben. Die Leute in der Kindertagespflege trifft es ebenfalls hart: sie müssen sogar den vollen Betreuungsumfang gewährleisten. In den Kitas konnten immerhin Stunden reduziert werden – was allerdings auch nur etwas Erleichterung für die zusätzlichen Arbeiten bringt, die Kontakte reduziert dies auch nicht. Immer mehr Tagespflegepersonen geben auf und arbeiten nicht mehr in diesem Bereich, verständlicherweise. Auch bei ihnen sind die Gruppen voll.

Bei uns Erzieher*innen wächst die Angst und die Frustration ebenfalls täglich. Wir fühlen uns aufgrund Ihrer politischen Entscheidungen enttäuscht und im Stich gelassen, als unwichtiges Rädchen im Getriebe, deren Erkrankung als Kollateralschaden in Kauf genommen wird. Wie Sie wissen werden, bestätigte eine AOK-Analyse der Krankschreibungen des letzten Jahres genau dieses Bild: Beschäftigte, die in der Betreuung von Kindern arbeiten, waren von allen Berufsgruppen am häufigsten von Krankschreibungen mit Covid-19 betroffen (News4teachers berichtete ausführlich über die Erhebung – hier geht es zu dem Beitrag). Und trotzdem wird nur darüber diskutiert, „Kitas so schnell wie möglich wieder zu öffnen“ – offener als momentan in NRW können Kitas nicht sein.

Nun sollen mehr Tests für Erzieher etwas zur Beruhigung beitragen. Beruhigt mich das? Nein, keineswegs. Wenn ich mich bei einem der Kinder oder dessen Mutter/Vater/ Geschwisterkind, angesteckt habe (andere Kontakte habe ich ja gerade nicht), ist es für meine Angehörigen, die Risikopatienten sind, ja zu spät. Das Gefühl, dass unsere Gesundheit und die unserer Familien so unwichtig in Ihren politischen Erwägungen ist, sorgt für tägliche Frustration. Die Arbeit, die ich eigentlich liebe, ist nun meine größte Angst. Ich brauche kein warmes „Danke“ und keine Maske. Ich brauche auch nicht zwingend einen zusätzlichen Test, der mir dann nur sagt „zu spät!“ Ich brauche keine nichtssagende Antwort.

Ich bräuchte Menschen in der Politik, die den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für die Menschen, die täglich ihren Kopf hinhalten. Andere Bundesländer haben die Konsequenzen gezogen und auch Kitas auf die Notbetreuung zurückgefahren. Zum Schutz der Familien (ALLER Familien). Dort wird jetzt zurecht über notwendige „Wiedereröffnung“ gesprochen.

Warum sollte ich unter den von Ihnen vorgegebenen Bedingungen noch weiterhin als Erzieherin tätig sein?

Ich frage mich selbst täglich, wie lange ich diesen Druck noch aushalte – die tägliche Angst auf der Arbeit, die ich mal geliebt habe. Wie lange ich mir noch einreden kann, dass ich meine Familie nicht zu sehr gefährde, durch diese Arbeit. Wie lange ich noch standhalten kann, trotz Schlaflosigkeit und Magenschmerzen. Warum sollte ich das? Warum sollte ich unter den von Ihnen vorgegebenen Bedingungen noch weiterhin als Erzieherin tätig sein? Diese Frage hätte ich gerne ehrlich von Ihnen beantwortet. Und zwar ohne Phrasen und Hinweise auf Testangebote und Masken, die wir erhalten. Würden Sie gerade diese Arbeit tun? Unter diesen Bedingungen? Nein, nicht nur medienwirksam für einen Tag, sondern auf Dauer? Ich glaube, Sie würden das nicht.

Ich nehme nicht für mich in Anspruch, für alle Erzieher*innen in Deutschland oder auch nur in NRW zu sprechen. Es mag Einrichtungen geben, in denen es anders läuft. Und natürlich braucht es gerade in sozialen Brennpunkten zu Krisenzeiten die Kita als sicheren Hafen für manche Kinder. Dies würde auch bei einer Notbetreuung nicht entfallen. Aber dass Sie nicht deutschlandweit die Chance ergriffen haben, als „Wellenbrecher“ auch die Kitas und Tagespflegen wieder auf eine Notbetreuung zu setzen, das werfe ich persönlich Ihnen als politische Fehlentscheidung auf Kosten meiner Familie vor. Und Familien wollten Sie doch eigentlich unterstützen? Da ich, wie viele Erzieher*innen, vernetzt bin mit Kolleg*innen aus anderen Kitas, Städten und Bundesländern, kann ich Ihnen sagen, dass dies nicht nur mir so geht.

Wenn alle gerade so reichlich frustrierten Erzieher*innen wirklich aufgeben und kündigen, dann war der bisherige Fachkräftemangel in diesem Bereich ein schlechter Witz. Wir halten seit Jahren viel aus – wir sagen viel zu selten NEIN. Nein, ich gehe nicht in die Küche, für die fehlende Küchenkraft. Nein, ich bleibe nicht allein in der Gruppe. Wir sollten es und denken immer, unser großherziges Opfer dient dann dem Wohle der Familien. Dieser Gedanke ist falsch. Wie lange ich noch unter diesen, von Ihnen hergestellten Umständen als Erzieherin tätig sein möchte/sein kann, weiß ich noch nicht. Wie lange meine Kolleg*innen durchhalten können, auch nicht. Ich weiß, dass der Gedanke „Ich kündige!“ in vielen Köpfen vorhanden ist. Und das, sehr geehrte Damen und Herren Politiker, ist allein Ihr Verdienst.

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