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“Sie haben gezockt, Frau Kultusministerin – und wir Eltern, Schüler und Lehrer haben verloren!” Ein Vater macht seinem Ärger Luft

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STUTTGART. Wieso müssen Restaurants und Friseure schließen, wenn doch angeblich offene Fenster reichen, um einen sicheren Unterricht zu gewährleisten? Weshalb wurden privat Kontaktbeschränkungen verhängt, während Schülerinnen und Schüler vormittags in vollen Klassen saßen? Warum mussten Kinder auf dem Schulhof Abstand halten, während sie sich auf dem Heimweg in überfüllten Bussen drängten? Die zahlreichen Widersprüche im Umgang der Kultusminister mit der Pandemie sorgen auch unter Eltern für Unverständnis. Einem alleinerziehenden Vater aus Baden-Württemberg reicht es jetzt. In einem Schreiben an Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) macht er seinem Ärger Luft – wir dokumentieren den überaus lesenswerten Brief.

“Seit einem Jahr im Ausnahmezustand”: Der alleinerziehende Vater schreibt sich den Ärger von der Seele. Illustration: Shutterstock

„Mensch ärgere Dich nicht“ ist keine Lösung, Frau Eisenmann

Ein offener Brief an die Kultusministerin von Baden-Württemberg

Liebe Frau Eisenmann,

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ich bin als alleinerziehender Vater und Solo-Selbstständiger von der Corona-Pandemie maximal betroffen. Seit fast einem Jahr befinde ich mich, wie viele andere Eltern auch, im Ausnahmezustand. Erst gar kein Unterricht, dann Unterricht online, nach den Sommerferien ein wilder Mix aus Regelwut, Stoßlüften und Quarantäne, und nun der zweite Lockdown – und mitten drin das von Ihnen geführte Kultusministerium. Frau Eisenmann, ich frage mich, wie lange Eltern, Schüler und Lehrer diese untragbaren Zustände noch hinnehmen sollen? Wenn Ihr einziger konstruktiver Vorschlag zur Beruhigung der Situation vor Weihnachten darin bestand, mit unseren Kindern „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen, dann stehen allen Beteiligten noch einige schwere Monate bevor.

Völlig falsche Strategie

Ich habe immer noch Ihre sanfte Stimme im Ohr. Wie wichtig Ihnen das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen doch ist. Deshalb mussten – egal wie – die Schulen und Kitas im Herbst geöffnet bleiben – scheinbar in purem Wohlwollen für und Sorge um die Bildung der „Schwächsten“ in der Gesellschaft. Die Schulöffnungen nach den Sommerferien waren richtig und wichtig. Sie haben unseren Kindern mehrere Monate eine Verschnaufpause ermöglicht. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Ihr Ministerium über Monate hinweg eine völlig falsche Strategie verfolgt hat. Sie haben Ihre ganze Energie darauf verwendet, mit vollständig geöffneten Schulen zum Normalbetrieb (vor Corona) zurückzukehren.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass Ihr Ministerium keinen Plan B hatte und scheinbar weder auf eine zweite Welle, geschweige denn auf einen zweiten Lockdown vorbereitet war?

Regelwut und Widersprüche ohne Ende

Wieso müssen Restaurants und Friseure schließen, wenn doch angeblich offene Fenster reichen, um einen sicheren Unterricht zu gewährleisten? Weshalb wurden privat Kontaktbeschränkungen verhängt, während die Kinder vormittags in vollen Schulklassen saßen? Warum mussten unsere Kinder auf dem Schulhof Abstand halten, während sie sich auf dem Heimweg in überfüllten Bussen drängten? Wie sollen wir unseren Kindern verständlich machen, dass wir uns privat mittlerweile mit niemandem mehr treffen dürfen, während Sie die Kinder wieder in volle Klassenräume stopfen wollen?

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass Ihr Ministerium es bis heute nicht geschafft hat, ein schlüssiges Konzept zu entwickeln, um die Unterrichtsversorgung auch unter Pandemie-Bedingungen zu organisieren?

Ablehnung von Luftfilteranlagen

Lüften, lüften, lüften – so lautete der Ratschlag aus Ihrem Kultusministerium, um das Ansteckungsrisiko mit Covid-19 zu verringern. Dass das an der Realität vieler Schulen vorbei geht, sollte eigentlich jedem klar sein, der schon mal eine Schule von innen gesehen hat. Es dürfte tausende Klassenzimmer im Land geben, die nicht richtig gelüftet werden können. Dabei hätten mobile Luftfilteranlagen im Kampf gegen die Ausbreitung von Corona-Viren in den Klassenzimmern eine wichtige Rolle spielen können. Während Bayern dafür ein 37 Millionen schweres Förderprogramm aufgelegt hat, ließen Sie sich, liebe Frau Eisenmann, nicht von Ihrem Standpunkt abbringen, dass gegen Aerosole nur eines helfe: „Lüften, lüften, lüften.“ Selbst diverse Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen, haben Sie bisher nicht von ihrer Meinung abgebracht.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, wenn gleichzeitig im baden-württembergischen Staatsministerium “vor allem in der hauseigenen Kantine zum Schutz der Beschäftigten oder bei größeren Terminen zum Schutz der Teilnehmenden” Luftfilter eingesetzt werden?

Unterkühlte Klassenräume

Was die meisten fast schon wieder vergessen haben – den ersten Wintereinbruch im Advent haben unsere Kinder zu spüren bekommen wie nie, denn das Lüften war der einzige Corona-Schutz im Klassenraum, der Ihrem Kultusministerium im Sommer eingefallen ist. Die Folge: Auch bei klirrender Kälte musste gelernt werden. Unsere Kinder haben nachgemessen: Unter 15 Grad Celsius sanken nach dem Stoßlüften vielerorts die Temperaturen im Klassenzimmer. Nach der großen Pause sanken die Temperaturen oft unter 5 Grad Celsius. Es war absehbar, dass sich Ihr „Lüftungskonzept“ bei niedrigen Temperaturen im Winter nicht durchhalten lässt.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, wenn das Verwaltungsgericht Freiburg festlegt, dass ein Raum für Arbeitnehmer nicht kälter sein darf als 17 Grad Celsius, wenn dauerhaft darin gearbeitet werden soll, während unsere Kinder stundenlang dick vermummt in völlig unterkühlten Klassenzimmern lernen mussten?

Versäumnisse ohne Ende

Früher hieß es: „Wir können alles außer Hochdeutsch!“ Seit dem Totalversagen Ihres Ministeriums in der Corona-Pandemie sollte es wohl besser heißen: „Wir können alles außer Schule!“ Seit dem Frühjahr wäre Zeit gewesen, die Schulen anders zu organisieren: alle Klassenzimmer mit Filteranlagen auszurüsten, zusätzliche Lehrkräfte heranzuziehen, leerstehende Räumlichkeiten anzumieten, um Gruppen zu verkleinern, die Schüler digital auszurüsten sowie die Schulausstattung zu modernisieren. Es war klar, dass eine zweite Welle kommen würde, und es wäre genug Zeit gewesen, die Schulen darauf vorzubereiten. Das ist jedoch nicht passiert. Stattdessen wälzen Sie alles mit salbungsvollen Worten auf uns, die Eltern, die Schüler und die Lehrer ab.

Und ich soll mich nicht darüber ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass die Politik für die Wirtschaft dreistellige Milliardenbeträge in die Hand genommen hat, während Sie krampfhaft zu kaschieren versuchen, dass seit dem Frühjahr in den Schulen (fast) nichts passiert ist?

Das Tabu der Schulschließungen

Sie haben sich während der gesamten Corona-Pandemie dagegen gewehrt, Schulschließungen an bestimmte Inzidenzen zu binden. Es gab Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, in denen festgelegt wurde, dass verschiedene Szenarien vorbereitet werden – Szenario A Präsenzunterricht, Szenario B Wechselbetrieb, Szenario C Distanzunterricht. Aber in der Praxis haben Sie nicht so gehandelt. Sie haben sich immer nur für das Offenhalten der Schulen eingesetzt und wenig dafür getan, um die Schulen für eine neuerliche Distanzunterrichtsphase zu wappnen. Sie haben sich selbst eingeredet, man könne die Schulen auf Teufel komm raus offenhalten.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass jede Familie zwischen Job und Betreuung aufgerieben wird, weil Ihr Ministerium es im Herbst versäumt hat, die Schulen rechtzeitig für einen zweiten Lockdown zu rüsten? Das ist von Ihnen zwar medial wirksam, aber völlig unnötig tabuisiert worden.

Digitales Entwicklungsland

Der erste Schultag nach den Weihnachtsferien dürfte alle Beteiligten an die ersten Schulschließungen im Frühjahr erinnert haben. Statt sich im Online-Klassenzimmer zu einer Videokonferenz zu treffen, bei der interaktive Inhalte vermittelt werden können, bleibt den Lehrern wieder einmal nur der Versand von Aufgabenblättern per E-Mail. In der Hoffnung, dass die Schülerinnen und Schüler den Stoff allein bewältigen können oder Hilfe bei ihren im Home-Office sitzenden Eltern finden. So war es auch im Frühjahr, als die Schulen in der Corona-Pandemie erstmals für einige Wochen geschlossen waren. Zehn Monate später ist Baden-Württemberg immer noch weit davon entfernt, fit für den digitalen Fernunterricht zu sein. Und die wenigen Lichtblicke verdanken wir allenfalls dem Engagement von Lehrern und Schulleitungen, und definitiv nicht Ihrem Ministerium.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass Sie sich standhaft weigern, den Tatsachen ins Auge zu blicken, weil Ihr Ministerium noch immer keine Alternative zum Präsenzunterricht bieten kann? Was derzeit im Homeschooling möglich ist, kann den normalen Unterricht in der Schule nicht einmal ansatzweise ersetzen.

Unreguläres Schuljahr

Unsere Kinder müssen seit Monaten unter besonderen Bedingungen lernen. Wie sollen eigentlich deren Leistungen in der Pandemie bewertet werden? Die Pandemie hat den Schulbetrieb nachhaltig gestört und seit März 2020 für massive Unterrichtsausfälle gesorgt. Und ein Ende der Misere ist derzeit nicht in Sicht. Den Schaden, der hier angerichtet wurde, macht niemand wieder gut. Das ist ein Problem, denn einen echten Plan B gibt es in Ihrem Ministerium nicht. Sie haben sich darauf verlassen, nach den Wochen des Chaos im Frühjahr, ab den Sommerferien wieder mehr oder weniger gemütlich Ihren Dienst verrichten zu können. Sie haben gezockt – und wir Eltern, Schüler und Lehrer haben verloren.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass Sie mit immer wieder angepassten Erlassen und Richtlinien versuchen zu halten, was längst nicht mehr zu halten ist? Dieses Schuljahr 2020/21 wird nicht regulär zu Ende gehen und hinterlässt schon jetzt Defizite, die für unsere Kinder nicht mehr aufzuholen sind.

Kanonenfutter im Wahlkampf

Bereits vor den Weihnachtsferien waren Sie mit Ihrem Vorhaben gescheitert, am regulären Ferienbeginn festzuhalten. Dann provozierten Sie mit einem gezielten dpa-Interview einen Sturm der Entrüstung, weil Sie Kitas und Grundschulen „unabhängig von den Inzidenzzahlen“ wieder öffnen wollten. Es muss Ihnen doch von Anfang an klar gewesen sein, dass Sie mit diesem „Vorhaben“ nie durchkommen würden. Also ging es Ihnen nur darum, bundesweit Schlagzeilen zu machen, um sich als Wahlkämpferin zu profilieren.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass wir Eltern mit unseren Kindern als Kanonenfutter für Ihren Wahlkampf herhalten müssen, nur weil Sie beschlossen haben, mit Schulöffnungen schlagzeilenträchtig auf Stimmenfang zu gehen?

Gescheiterte Wiedereröffnung

Als Ihre geplante Wiedereröffnung der Kitas und Grundschulen Ende Januar wegen eines Corona-Ausbruchs an einer Freiburger Kita in einem Super-Gau endete, haben Sie sich „völlig überrascht“ gezeigt. Da fliegt einem das Dach weg. Sie haben sich wochenlang stur gegen jede wissenschaftliche Empfehlung gestellt, haben Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz ignoriert und protestierende Eltern- und Lehrerverbände auflaufen lassen, nur um im Wahlkampf die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und dann geben Sie plötzlich die Überraschte, dass Ihre Wahlkampfidee in letzter Minute krachend gescheitert ist. Seither sind Sie abgetaucht, während wir Eltern mal wieder im Regen stehen.

Und ich soll mich nicht ärgern, liebe Frau Eisenmann, dass Sie plötzlich betonen, Baden-Württemberg stehe vor einer „neuen Herausforderung“, obwohl eigentlich nur deutlich wird, wie realitätsfern Ihre gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderungen nach Schulöffnungen waren?

Eine einmalige Gelegenheit

Das einzige, worüber ich mich tatsächlich NICHT ärgere, liebe Frau Eisenmann, sind die Landtagswahlen am 14. März 2021. Spätestens dann haben die Wählerinnen und Wähler im Land die Möglichkeit, Ihre Schulpolitik in der Corona-Krise zu bewerten. Dann können geplagte Eltern, Lehrer und Schulleiter an der Wahlurne entscheiden, ob wir Ihnen, nicht mehr „nur“ unsere Kinder anvertrauen, sondern gleich das ganze Land. Und sollten Sie an der Wahlurne einen Denkzettel für Ihr bisheriges Krisenmanagement bekommen, dann wissen Sie ja, was zu tun ist … am besten eine Partie „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen.

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