STUTTGART. Am kommenden Montag startet Europas größte Bildungsmesse didacta – erstmals als Online-Veranstaltung. Mit von der Partie: die Bildungsforscherin Prof. Anke Langner von der Technischen Universität Dresden. Sie ist wissenschaftliche Leiterin der wohl spannendsten Schulneugründung in den vergangenen Jahren in Deutschland: der inklusiv und digital arbeitenden Universitätsschule Dresden. Das Konzept wird sie im Rahmen einer Diskussionsrunde auf der didacta vorstellen. Wir haben vorab mit ihr gesprochen.
News4teachers: Frau Langner, was ist – kurz erklärt – der Grundgedanke Ihres Konzepts?
Anke Langner: Wir haben gesagt, es muss möglich sein, Schule wirklich von dem individuellen Entwicklungsprozess der Schülerinnen und Schüler her zu denken. Und dafür entstehen vor allem durch die Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten. Denn mit ihr schaffen wir es, Lernen besser zu dokumentieren und damit zu verstehen – und zwar für den jeweiligen Schüler und die jeweilige Schülerin. Das Digitale hilft uns, die Organisation des Lernens flexibler und angemessen zu gestalten, ohne dass wir ein Kind aus den Augen verlieren, was vor allem in offenen Lernkulturen bisher immer eine Gefahr war. Methodisch-didaktische Formate, die Binnendifferenzierung ermöglichen, benötigen sowohl eine gute Einschätzung der Lernsituation als auch eine Flexibilität in der Organisation, hier hilft das Digitale weiter.
Andrej Priboschek, Herausgeber von News4teachers, moderiert die Diskussionsrunde des Didacta Verbands mit dem Titel: „Die größten Herausforderungen im Schulalltag: Wie Schulen mit Heterogenität umgehen“ (10. Mai, 16 Uhr). Mit dabei: Prof. Dr. Anke Langner, wissenschaftliche Leiterin der Universitätsschule Dresden – die wohl ambitionierteste und innovativste Schulgründung der letzten Jahre in Deutschland – sowie Sylvia Stahl von der Theodor-Heuss-Grundschule in Mainz.
Europas größte und Deutschlands wichtigste Bildungsmesse wird nach dem pandemiebedingten Ausfall im letzten Jahr nun doch vom 10. bis 12. Mai 2021 stattfinden – erstmals als Online-Veranstaltung. Dutzende von Workshops, Referate und Diskussionsrunden versprechen wichtige Informationen und Ideen für die berufliche Praxis in Kita, Schule und Ausbildungsbetrieb. 180 Aussteller haben sich angesagt. Die Teilnahme ist kostenlos.
News4teachers: Wie wird digitale Technik an der Universitätsschule eingesetzt?
Langner: Wichtig ist: Lernen findet in dieser Schule nicht durch den Computer statt! Das muss immer noch von den Schülerinnen und Schülern selbst vollzogen werden. Es ist zwar eine Schule mit Computern und Laptops, aber das Lernen mit Kopf, Fuß, Augen, Ohren, Nase ist nach wie vor das zentrale Element. Es geht vor allem darum, bestimmte Abläufe effizienter und effektiver zu gestalten, also diese individualisierten Lernprozesse zu ermöglichen und zu organisieren. Wir sind ja auch eine öffentliche Schule und haben nicht mehr Lehrerinnen und Lehrer als andere Schulen und die gemeinsame Lehr-Lernzeit ist ein kostbares, knappes Gut. Deshalb ist es wichtig, dass bestimmte Organisationsprozesse durch die digitale Technik erleichtert werden. Wir sprechen deshalb von digital gestütztem Lernen.
News4teachers: Können Sie konkrete Beispiele für dieses digital gestützte Lernen nennen?
Langner: Ja, also für die Universitätsschule wurde eine eigene Software im Sinne einer Kopplung von Lern- und Schulmanagementsoftware entwickelt. In dieser Software wird der Lernprozess jedes Schülers und jeder Schülerin dokumentiert, er bildet die Basis für alle weiteren pädagogischen Unterstützungen, wie auch die Etablierung regelmäßig neuer individueller Stundenpläne für die Schülerinnen und Schüler. Diese werden aus der Planung der Schülerinnen und Schüler ihrer jeweiligen Projekte generiert, was auch in der Software erfolgt. Darüber hinaus dient die Software auch als Lernmanagement, in dem Sinne, dass Arbeitsaufträge von den Schülerinnen und Schülern hochgeladen werden, sie Feedback ihres Lernbegleiters bekommen, sie ihre Ergebnisse dokumentieren und so weiter. Das geht inzwischen alles digital – ohne, dass der reale Dialog darunter leidet.
News4teachers: Wie ändert sich dadurch die Rolle der Lehrkräfte?
Langner: Die Rolle verändert sich erheblich. Lehrer werden zu Lernbegleitern, die nicht mehr dazu da sind, Wissen lediglich zu vermitteln, sondern um das Lernumfeld entsprechend für die Schülerinnen und Schüler zu gestalten. Sie müssen aber – und das ist das Besondere – über sowohl Fachwissen als auch didaktisch-methodisches Wissen verfügen, damit sie gute Lernbegleiter sein können. Es reicht nicht aus, dass ich als Lehrer immer weiß, welche Seite im Lehrbuch als nächstes kommt und worum es geht, sondern ich muss, wenn Kinder Ideen haben, versuchen zu verstehen, was könnte von dem Kind jetzt dazu bearbeitet werden. Und das heißt vor allen Dingen, interdisziplinär oder fächerverbindend zu denken.
News4teachers: Was macht denn ein gutes Projekt von Schülerinnen und Schülern aus, worauf müssen die Lernbegleiter achten?
Langner: Grundsätzlich kann aus jeder W-Frage ein Projekt entstehen: Warum fliegt ein Flugzeug? Warum häuten sich Schlangen? Warum ist die Titanic untergegangen. Wie tief könne U-Boote tauchen? Wichtig ist, dass die Bearbeitung der Frage durch Pädagogen begleitet wird, indem den Schülerinnen und Schülern zu unterschiedlichen Themen wie Mathematik oder Deutsch Arbeitsaufträge im Kontext ihres Projektes unterbreitet werden. Je älter sie werden, umso eigenständiger arbeiten sie. Sie werden also an dieses selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Arbeiten herangeführt und nutzen dafür immer wiederkehrende Abläufe. Es startet alles mit einer Assoziationsphase, in der die Kinder selbst herausfinden, was ihre Frage eigentlich für weitere Fragen aufwirft oder welche Begriffe zu klären sind. Dann folgt eine erste Recherche, damit das Thema genauer bestimmt werden kann, um folgend einen ersten Plan für sich zu erstellen und diesen auch bei den Pädagoginnen und Pädagogen einzureichen. Dann beginnt die eigentliche Arbeit – die Projektdurchführung, die ein sehr konkretes Ziel hat, zum Beispiel ein Modell zu erstellen. Die Projekte werden nicht durch alle Projektmitglieder gleich bearbeitet, sondern dies ist ein kooperativer Prozess, indem jeder eine bestimmte Verantwortung trägt. Damit dies gelingen kann, werden die Lehrerinnen und Lehrer unterstützt, die individuellen Entwicklungswege zu verstehen und zu dokumentieren durch die digital gestützten Lernpfade in der Lern- und Schulmanagementsoftware.
News4teachers: Schülerinnen und Schüler sollen also in Form von Projekten lernen – in ihrem eigenen Tempo, in Absprache mit den Lernbegleitern. Ich kann mir aber noch nicht ganz vorstellen, wie Sie sichergehen, dass die Kinder zwar individuell, aber in einer Gruppe lernen und wie sie sich dabei noch alle notwendigen Grundlagen aneignen.
Langner: Stellen wir uns vor, eine Gruppe will ein Floß bauen, mit dem wir über die Elbe fahren können. Dann bearbeiten die Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedliche Aspekte. Der eine kalkuliert vielleicht, wie viel Holz wir brauchen, damit das Floß schwimmt, ein anderer fragt nach der geschichtlichen Bedeutung des Floßbaus und so weiter. Da sind unterschiedlichste Elemente denkbar, aber am Ende haben die Schüler alle zusammen das Ergebnis, dass sie mit dem Floß über die Elbe schippern können, ohne dass sie untergehen. Oder noch ein Beispiel: Wenn ein Kind direkt eine sehr komplexe Frage stellt, wie „Warum kann eine Rakete zum Mond fliegen?“, ist die Beantwortung der Frage nicht der einzige Erkenntnisprozess. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass man sich Wissen aneignen und planen muss, wie man vorgeht. Und dafür muss das Kind in irgendeiner Form lernen, die Kulturtechniken zu beherrschen, also Lesen, Rechnen, Schreiben. Aus allen reformpädagogischen Institutionen wissen wir, dass Schülerinnen und Schüler relativ selbstständig lernen, wenn sie sozusagen gelernt haben, zu lernen. Und wenn es ihr Lernen ist, es also für sie Sinn macht.
News4teachers: Das heißt, am Anfang sollte die Erkenntnis stehen, warum soll ich lernen, warum will ich lernen?
Langner: Ja, es muss für die Kinder Sinn ergeben, warum sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Sinn ist eine rein individuelle Kategorie. Kinder wollen viel wissen und sie haben viele Möglichkeiten, dass etwas Sinn für sie ergibt. Es muss aber an ihrer aktuellen Lebenssituation gut anknüpfen, sonst kann es für sie keinen Sinn machen. Unser Wunsch ist es, die Neugier und Kreativität der Kinder zu unterstützen – sie sollen ihre Fragen an die Welt stellen und sich selbst mit Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer beantworten und über diesen Weg Wissen selbst produzieren und damit lernen.
News4teachers: Und was haben Sie Eltern gesagt, die in Sorge waren, dass ihr Kind mehr Struktur braucht?
Langner: Die Kinder bekommen was sie brauchen in dieser Schule, der eine mehr Struktur, der andere weniger. Jeder Raum ist in dieser Schule gleich organisiert – überall finde ich das Material an der gleichen Stelle und auch jedes Projekt läuft von den Prozessen identisch ab. Natürlich sind die Inhalte anders und die Lehrerinnen und Lehrer sind individuelle Persönlichkeiten, aber die gleiche Struktur und die standardisierten Prozesse in dieser Schule schaffen die Möglichkeit für ein individualisiertes Lernen. Das ist ganz im Sinne aller Eltern.
News4teachers: Wie klappt dieses individualisierte Lernen im Rahmen von Projektarbeit in Zeiten von Corona?
Langner: Projektarbeit in Zeiten von Corona stellt auch an der Universitätsschule Dresden eine große Herausforderung dar. Während der umfänglichen Schulschließung war das Projektlernen nicht mehr möglich. Wir haben versucht, es durch Angebote zum Austausch in kleineren Projekten zu Hause zu unterstützen, aber einen wirklichen kooperativen Lernprozess zwischen Schülerinnen und Schülern konnten wir nicht schaffen. Das Projektarbeiten nach der Wiederöffnung der Schulen mit dem Beibehalten fester Gruppen entsprechend der Vorgaben zum Infektionsschutz ist nicht unterstützend für das gemeinsame Lernen, aber in diesem Rahmen schaffen wir dennoch eine Umsetzung von Projektarbeit.
News4teachers: Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Glauben Sie, dass sich durch die Corona-Krise etwas ändern wird, in der Art wie und mit welchen Mitteln Schülerinnen und Schüler lernen?
Langner: Ich habe es erhofft, ich denke aber nicht, dass wir in der Folge der Pandemie wirkliche Veränderungen in Schule erleben. Dazu müsste sich die Bildungspolitik verändern, denn sie schafft die Strukturen, die Entwicklung in Schule ermöglichen oder verhindern, nicht ein Virus. Wir sehen durch die Pandemie einmal mehr die Grenzen unseres Bildungssystems, aber zu welchen notwendigen Veränderungen dies führen wird, entscheiden leider kaum Schulen und Lehrerinnen und Lehrern, sondern Schuladministration, Schulträger und Schulaufsicht.
Im Sommer 2019 starteten die ersten Schulklassen an der Universitätsschule, die inklusiv, digital gestützt, jahrgangsübergreifend und projektbasiert arbeitet. Das Ziel: Empirische Erkenntnisse über das Lernen zu erlangen.
Insgesamt 15 Jahre lang soll der Schulversuch an der Universitätsschule laufen. Über die speziell entwickelte Lern- und Schulmanagementsoftware, die den Lernprozess des Einzelnen dokumentiert und nachvollziehbar macht, werden fortlaufend Daten generiert – natürlich anonym und datenschutzkonform. Zusätzlich werden Interviews mit den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern sowie den Eltern geführt. „Mithilfe all dieser Daten können wir herausfinden, wie Lern- und Entwicklungsprozesse ablaufen und wir können Schulorganisation kritisch durchleuchten“, erklärt die Bildungsforscherin Anke Langner von der Technischen Universität Dresden.
Seit August 2020 lernen hier bereits rund 360 Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 1 bis 6. In fünf Jahren soll die öffentliche Grund- und Oberschule, die sich in städtischer Trägerschaft befindet, dann bis zu 800 Schülerinnen und Schüler haben, die von der 1. bis zur 10. Klasse durchgängig fächerverbindend und ganztägig zusammen lernen.
Die Schulgemeinschaft hat sich entschieden, eine der ersten Gemeinschaftsschulen in Sachsen zu werden. Auch die Rolle des Raums als 3. Pädagoge soll im Rahmen des Schulversuchs erforscht werden. Dafür ist das gemeinsame Projekt der Stadt Dresden und TU Dresden auf dem Weg zum Bau eines Lernhauses mit einer entsprechenden Architektur.
didacta: Europas größte Bildungsmesse findet doch statt – online und kostenlos
