HANNOVER. Deutschlands Schüler und Lehrer werden wohl auch im kommenden Winter immer wieder bei offenen Fenstern arbeiten und lernen müssen. Von Seiten der Kultusminister gibt es bislang keine Initiative, Klassenräume mit mobilen Luftfiltern auszustatten, die mögliche Corona-Viren aus der Atemluft holen und so den Lüftungsaufwand auf ein normales Maß herunterbringen würden. Ein Brief des niedersächsischen Kultusministers Grant Hendrik Tonne an Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali lässt erkennen, dass diesbezüglich mit keinerlei Engagement zu rechnen ist. „Frische Luft ist gesund“, so schreibt der Sozialdemokrat.
Die niedersächsische Landesregierung lehnt die Anschaffung von mobilen Luftfiltern für alle Schulklassen weiter ab – die Räume sollen auch im Winter weiter in enger Taktung stoßgelüftet werden. Das geht aus einer Antwort von Kultusminister Tonne an die Vorsitzende der Linken im Bundestag, Amira Mohamed Ali, hervor. Die Oldenburgerin hatte Tonne aufgefordert, sich für eine Finanzierung der Luftfilter einzusetzen. Sie meint: „Die Geräte können ergänzend zum Lüften die Virenlast reduzieren. Wir brauchen sie in jeder Klasse.“
Der Kultusminister ist anderer Meinung – und verweist auf die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen. „Die Anwendung der Abstand- und Hygieneregeln und das infektionsschutzgerechte Lüften waren seit dem Beginn der Corona-Pandemie wichtige Bausteine zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens“, so schreibt Tonne an Mohamed Ali. Der Brief liegt News4teachers vor. „Daran werden wir auch weiterhin konsequent festhalten und gleichzeitig den Rahmen-Hygieneplan unter Einbeziehung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse kontinuierlich prüfen und weiterentwickeln.“
„Es gibt keine Hinweise auf ein überproportionales Infektionsgeschehen oder gar Spreader-Events in Schulen“
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse sind für Tonne allerdings nur solche Befunde, die die eigene Linie – ohne weitere Kosten durch die Pandemie zu kommen – untermauern. So räumt er zwar Ansteckungen in Schulen ein, behauptet aber gleichzeitig: „Bei den entdeckten Infektionen handelt es sich um einzelne oder wenige Personen je betroffener Schule. Es gibt keine Hinweise auf ein überproportionales Infektionsgeschehen oder gar Spreader-Events in Schulen.“ Warum waren dann überhaupt Schulschließungen und am Ende sogar eine Bundesnotbremse, die den Ländern den Präsenzunterricht oberhalb eines Inzidenzwertes von 165 verbot, nötig? Darauf gibt Tonne keine Antwort.
Das Robert-Koch-Institut hatte bereits im Herbst 2020 bundesweit Hunderte von Ausbrüchen in Kitas und Schule gezählt. Noch im Lagebericht vom 4. Juni 2021 heißt es mit Blick auf das Infektionsgeschehen in Deutschland: „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen private Haushalte, aber auch das berufliche Umfeld sowie Kitas und Schulen.“
Aktueller Fall aus Tonnes Beritt: An einem Gymnasium im niedersächsischen Hildesheim hat es in der vergangenen Woche einen Corona-Ausbruch mit offiziell 14 infizierten Schülern gegeben, davon 13 Kinder aus einer Klasse. Bei sechs von ihnen wurde die „Delta“-Mutation des Virus nachgewiesen, die zunächst in Indien auftrat und nun in Großbritannien für ein erhöhtes Infektionsgeschehen sorgt – auch in Schulen. Alles kein Problem, obwohl Schüler bis zum Winter kaum geimpft sein dürften?
Auch in puncto Lüften werden „aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse“ nur dann vom Kultusminister wahrgenommen, wenn sie ihm politisch in den Kram passen – er verweist auf eine (wissenschaftlich umstrittene) Arbeit der Technischen Hochschule Mittelhessen, bei der sich „die Fensterstoßlüftung wesentlich wirksamer als eine maschinelle Luftfilterung erwies, bei der in demselben Klassenraum nach etwa 30 Minuten eine Reduzierung der Konzentration um 90 Prozent festgestellt worden war“.
Damit wird der Eindruck erweckt, dass bei der Studie Vergleichsmessungen stattgefunden hätten. Haben sie aber offensichtlich nicht, wie News4teachers bereits vor einiger Zeit berichtete – ein Luftfiltergerät kam erkennbar nicht zum Einsatz. Lediglich die Wirkung offener Fenster in einem leeren Raum wurden untersucht. Zwei große Studien – eine vom Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München, eine zweite von der Goethe Universität Frankfurt –, die tatsächlich die Wirkung von Luftfiltern und offenen Fenstern in aufwändigen Versuchsanordnungen verglichen, kommen unabhängig voneinander denn auch zum gegenteiligen Ergebnis: Es wird dringend empfohlen, Luftfilter in Schulen einzusetzen.
“Das Lüften verursacht keinerlei gesundheitliche Risiken, auch keine Erkältungen – im Gegenteil“
Die Deutsche Physikalische Gesellschaft warnt mittlerweile ausdrücklich davor, bei der Belüftung von Klassenzimmern nur auf offene Fenster zu setzen. Der Einsatz technischer Geräte zur Belüftung ist nach Ansicht der Fachgesellschaft jeder Art passiver Lüftung durch bloßes Öffnen von Fenster und Türen weit überlegen, da bei der technischen Belüftung der Luftaustausch beziehungsweise die Luftreinigung in kontrollierter Art und Weise geschieht. Bei der von den Kultusministern empfohlenen passiven Lüftung von Klassenräumen mit Außenluft über die Fenster sei dies in einem typischen Klassenzimmer dagegen nicht zu erreichen, da diese stark von Faktoren wie Wind, Temperatur, Fensteröffnungen oder der Lage der Heizkörper abhänge. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sind Tonne keine Erwähnung wert.
Stattdessen schreibt er: „Mobile Luftreinigungsgeräte versprechen, virushaltige Partikel in Innenräumen zu reduzieren. Ob die Minderungen ausreichen, eine Infektionsgefahr in dicht belegten Klassenräumen abzuwenden, ist nach jetzigem Wissenstand unsicher.“ 20 Millionen Euro habe die Landesregierung bereits für Corona-Schutzmaßnahmen an Schulen zur Verfügung gestellt, betont der Minister – das sind, wir haben nachgerechnet, rund 24 Euro pro Schüler. Die flächendeckende Anschaffung von mobilen Luftfiltern für Schulen würde nach Expertenangaben etwa 100 Euro pro Schüler kosten. Tonne: „Vor dem Hintergrund dieser Bewertung erscheint mit dem heutigen Wissensstand eine Investitionsentscheidung zur Auflage eines Förderprogramms zur Ausstattung aller Schulräume mit mobilen Raumluftreinigern weder erforderlich noch sinnvoll begründet zu sein.“
Zumal, so betont der Kultusminister, er eigentlich gar nicht zuständig ist. „Hier möchte ich (..) darauf hinweisen, dass die Schulträger für ihre Schulanlagen im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung und der Privatschulautonomie bei den freien Schulen eigenverantwortlich sind. (…) Das Niedersächsische Kultusministerium kann den Schulträgern daher keine Vorgaben zur Ausstattung von Schulen machen und spricht auch grundsätzlich keine Empfehlungen, z. B. für oder gegen die Ausstattung von Schulen mit mobilen Raumluftfiltergeräten, aus.“
Tut er dann aber trotzdem. Statt Luftfilter einzusetzen, so Tonne, sollen weiterhin nur die Klassenraum-Fenster regelmäßig aufgerissen werden – auch im kommenden Winter. „Zur Reduktion des Übertragungsrisikos von Covid-19-Viren ist auf eine intensive Lüftung der Räume zu achten. Etwa alle 20 Minuten soll eine Stoßlüftung oder Querlüftung durch möglichst vollständig geöffnete Fenster vorgenommen werden. Hier gilt das sog. 20-5-20-Prizinp. In Abhängigkeit von der Außentemperatur dauert eine solche Lüftung nur 3 bis 10 Minuten und ist somit auch im Herbst und Winter problemlos möglich. Die Raumluft kühlt beim Stoßlüften in Räumen über wenige Minuten lediglich um ca. 2 – 3 Grad ab, was für Schülerinnen und Schüler als gesundheitlich unproblematisch anzusehen ist. Frische Luft ist gesund, das Lüften verursacht keinerlei gesundheitliche Risiken, auch keine Erkältungen – im Gegenteil, das regelmäßige Lüften wirkt hier sogar vorbeugend.“
Das Schreiben stößt bei Mohamed Ali nicht nur deshalb auf Unverständnis: „Die Antwort von Minister Tonne ist vollkommen unverständlich und fast dreist. Die Luftfilter werden nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zum Lüften eingesetzt, um den größtmöglichen Schutz der Schüler zu gewährleisten. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Herr Tonne den Nutzen der Geräte in Abrede stellt, während zahlreiche niedersächsische Landesbehörden sie selbst angeschafft haben.“
„Es spricht doch Bände, wenn er sich weigert, aktuelle Zahlen über die Neuanschaffung von Luftfiltern in Behörden zu liefern”
Die Linken-Fraktionschefin hatte den Kultusminister aufgefordert, eine aktuelle Liste dazu vorzulegen – was Tonne unter Verweis auf den Verwaltungsaufwand zurückgewies. „Es spricht doch Bände, wenn er sich weigert, aktuelle Zahlen über die Neuanschaffung von Luftfiltern in Behörden zu liefern. Minister Tonne sollte sich einmal bei seinen Kollegen über die Gründe für deren Kauf von Luftfiltern informieren. Vielleicht kommt er dann auch zu dem Schluss, dass sie nicht nur in Beamtenstuben, sondern auch in Klassenräumen Sinn machen“, meint Mohamed Ali.
Nach dem Ausbruch in Hildesheim wurde an der betroffenen Schule übrigens jetzt ein neues „Lüftungskonzept“ erlassen: „Es gilt vorübergehend nicht mehr die 20-5-20-Regel, sondern mindestens ein Rhythmus von 15-10-15, also 15 Minuten Unterricht, 10 Minuten weit geöffnete Fenster, wieder 15 Minuten Unterricht“, so informierte die Schulleitung in dieser Woche Schüler, Eltern und Kollegium. „Natürlich darf die Lüftungszeit wie bisher auch übererfüllt werden.“ Kühle Aussichten für den kommenden Winter. News4teachers
