Macht Mühe: Warum die Bürokratie einer besonderen Schule den Saft abdreht

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BOCHUM. An der Bochumer WebIndividualschule lernen Kinder aus ganz Deutschland, die oft einen langen Leidensweg hinter sich haben, sehr krank sind. Online, im Einzelunterricht. Mit Blick auf ihre Abschlussprüfungen gibt es jetzt große Sorgen.

Kranke Kinder bekommen in der Web-Individualschule Online-Unterricht (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

In der WebIndividualschule – sie gilt als deutschlandweit einzige Internetschule für kranke Kinder – bangen Schüler um ihre Abschlussprüfungen. Die Bezirksregierung Arnsberg habe der Schulleitung in Bochum im Dezember kurzfristig mitgeteilt, dass sie aufgrund des hohen personellen und organisatorischen Aufwands nicht mehr Schüler aus allen Bundesländern prüfen können, sagte Schulleiterin Sarah Lichtenberger. In der Individualschule werden Schüler einzeln online unterrichtet, denen wegen psychischer oder körperlicher Erkrankung kein regulärer Schulbesuch möglich ist. In einem Gastbeitrag auf News4teachers hatte die Leiterin ihre Schule im vergangenen April vorgestellt.

Zuletzt hatte die Schule jedes Jahr rund 100 Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Deutschland zu einem Realschul- oder Hauptschulabschluss geführt. 2021 hatte die Bezirksregierung ihnen die Abschlussprüfungen als «Externenprüfung» abgenommen – und zwar für alle Schüler aus allen Bundesländern. Auch WDR und ZDF berichteten, dass die Bezirksregierung nun erreichen will, dass die Schüler jeweils in den Bundesländern geprüft werden, in denen sie leben. Lichtenberger sagte, die Schüler seien aber auf den Unterrichts- und Prüfungsstoff für NRW vorbereitet. Ursprünglich wollten 120 Schüler ihre Abschlussprüfungen 2022 ablegen. Viele seien nun verunsichert. Sie habe 70 Schüler angemeldet und wolle für diese eine Prüfung einklagen. Lehrpläne und Prüfungsfächer sind in den Bundesländern unterschiedlich.

Die Betreuung der psychisch oder körperlich teils erheblich beeinträchtigten Schüler sei auch rund um die Abschlussprüfung aufwendig, schilderte Lichtenberger. Manche benötigten einen Einzelraum, mitunter brauche es Unterstützung durch Psychologen. Aber in den vergangenen Jahren habe das stets gut funktioniert, betonte sie. Zudem habe die Schulleitung mit vielen Vorschlägen Entgegenkommen gezeigt: So habe sie vorsorglich große Räume für den Prüfungstag reserviert, selbst eine ehrenamtliche Prüfungskommission aus pensionierten Lehrkräften zusammengestellt – alles sei abgelehnt worden. «Keiner scheint an das Wohl der Kinder zu denken.» Die Warteliste für die staatlich nicht anerkannte Schule ist lang. Die Monatsbeiträge werden Lichtenberger zufolge häufig von Jugendämtern übernommen.

«Das Ziel bleibt, aber der Weg muss nach den bisherigen Erfahrungen neu aufgesetzt werden»

Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagte auf Anfrage, es sei ihr ein wichtiges Anliegen, dass den derzeitigen Web-Schülern auch weiter ein Angebot bereitgestellt werde, damit sie in diesem Jahr ihre Bildungsabschlüsse erreichen könnten. «Das Ziel bleibt, aber der Weg muss nach den bisherigen Erfahrungen neu aufgesetzt werden.» Denn: «Eine einzelne Bezirksregierung in Nordrhein-Westfalen ist personell damit überfordert, für alle Bundesländer die Externenprüfungen durchzuführen – mit all den organisatorisch zu beachtenden Aspekten und Nachteilsausgleichen, die den Schülerinnen und Schülern zustehen.»

Nach Angaben des Ministeriums war der Web-Schule für das Prüfungsjahr 2021 per Erlass ermöglicht worden, bei der Anmeldung zur Prüfung vom Wohnortprinzip abzuweichen – auch «Externe» aus anderen Bundesländern konnten in NRW demnach ihre Abschlussprüfung ablegen. Ein Ministeriumssprecher sagte, im Erlass sei aber ausdrücklich vorgesehen, dass eine «organisatorische Machbarkeit» gegeben sein müsse.

«In einem intensiven Verfahren mit allen an den Prüfungen beteiligten Institutionen und Personen wurden Lösungen für die Folgejahre und auch eine Übergangsregelung für das Prüfungsjahr 2022 entwickelt», hieß es in Düsseldorf. In Kürze sei ein Gespräch mit der Web-Schulleitung geplant. Lichtenberger zeigte sich erstaunt: «Mit uns hat keiner gesprochen, es gab keinen Dialog mit unserer Schule, von Lösungen oder Kompromissen ist mir nichts bekannt.» Im Februar solle das Thema auch im Schulausschuss des Landtags behandelt werden. Eltern forderten in einer Online-Petition, dass die Abschlussprüfungen weiter unabhängig vom Wohnsitz der Schüler erfolgen sollten. News4teachers / mit Material der dpa

Gastbeitrag: Warum Distanzunterricht als Möglichkeit in die Schulgesetze gehört

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Andre Hog
2 Jahre zuvor

«Eine einzelne Bezirksregierung in Nordrhein-Westfalen ist personell damit überfordert, für alle Bundesländer die Externenprüfungen durchzuführen – mit all den organisatorisch zu beachtenden Aspekten und Nachteilsausgleichen, die den Schülerinnen und Schülern zustehen.»

Mein Gott, was bin ich froh, dass wir eine oberste Dienstherrin haben, die sich um die Belange ihrer untergeordneten Dienststellen so fürsorglich kümmert.

Wie?? Es geht dabei gar nicht um das Wohl der SuS , sondern um die evtl „Überbelastungen“ einer Bezirksregierung, die für die Verwaltung des Schulwesens eigens zuständig ist.

Naja, man kann nicht alles haben….wenn’s halt Mühe macht…dann muss es auch ohne solche Leuchtturmprojekte gehen.

dickebank
2 Jahre zuvor
Antwortet  Andre Hog

Es geht um das Abnehmen der Abschlussprüfungen. Da die Lehrpläne auf den NRW-Lehrplänen beruhen, müssen die Prüfer aus NRW stammen. Da die Schulabteilung der Bez.-Reg. Arnsberg eben nicht genügend RSD undLRSD hat, müssen die Prüfer von Schulen im Zuständigkeitsbereich der Bez.-Reg. abgezogen werden. Da viele der Prüflinge eben nicht mit erstem Wohnsitz in NRW gemeldet sind, wird eine hoheitliche Aufgabe für andere Bundesländer zulasten der eigenen Bevölkerung übernommen. Da Behörden blödsinnigerweise den Preis für ihre Produkte ermitten und verrechnen müssen, behaupte ich einmal, dass es hier um Kompensation der Verwaltungsleistung durch Dritte geht. Kann ich als NRW-Steuerzahler sogar nachvollziehen, vor allem wenn ich mir von den Nettozahlern im horizontalen LFA vorhalten lassen muss, dass NRW Empfänger ist. Es ist also schlichtweg ein politischer Preis, den die anderen bezahlen müssen, weil Herr Lienenkämper seinen Haushalt nicht ausgeglichen bekommt und dat Yvonnsche keinen zusätzlichen Unterrichtsausfall gutheißen kann.

Andre Hog
2 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Ja, da gebe ich dir recht…aber anstatt nach entsprechenden Kompensationen zu suchen und diese bei gutem Willen und einer gewissen Sorgfalt und Planzngssicherheit diesem Problem auf bürokratischer Ebene zu begegnen, wird dann so ein Projekt eingestellt.
Ich kenne das vom pädagogischen Konzept des „Trainingsraums“, dass ich damals in Bielefeld maßgeblich mitentwickelt und fortgeführt habe.
Als es darum ging, die finanziellen Rahmenbedingungen abzusichern sagte die damalige KuMi Gaby Behler, dass gute Arbeitsergebnisse keine Mittel freisetzen und sie daher nichts dazu beisteuern könnte. Wir hätten aber die Erlaubnis, das „tolle Projekt mit bordeigenen Mitteln weiterzuführen“.

Pit2020
2 Jahre zuvor

„Lichtenberger zeigte sich erstaunt: «Mit uns hat keiner gesprochen, es gab keinen Dialog mit unserer Schule, von Lösungen oder Kompromissen ist mir nichts bekannt.»“

Läuft doch (Ironie!) – und geht den üblichen Dienstweg! 🙁

Mein Name ist Hase
2 Jahre zuvor
Antwortet  Pit2020

… nämlich zuerst gaaanz langsam die Hühnerleiter hoch, aber dann -plötzlich und unerwartet- in einem scharfen U-Turn ganz schnell den Bach runter – „Ihr Vorschlag ist innovativ und fantasievoll – und damit denkbar ungeeignet.“ (Yes, Minister!)

Andre Hog
2 Jahre zuvor

@Hase
🙂 . . Schönes Bild….und dann noch so eindrücklich!! Danke!!

Eine Mutter
2 Jahre zuvor

Und wiedereinmal werden Seelen und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, der Faulheit und Kaltherzigkeit von Behörden geopfert. Liebe Schulbehörde und sämtliche in dieser Entscheidung involvierte Amtsleiter: SCHÄMT EUCH!
Ich wünsche jeden Einzelnen von Ihnen, dieses Gefühl, dass nun die Schüler und Familien nun zusätzlich zum Coronaalltag ertragen müssen.

Jan aus H
2 Jahre zuvor

Wenn man es nicht schafft, funktionierende und individuelle Schulkonzepte an die Wand zu drücken, dann muss im Zweifelsfall eine Bürokratenposse herhalten.

Dass dieses Problem auftaucht, muss den Ämtern doch VORHER klar gewesen sein.

Ganz nebenbei: Ohne die schulpolitische Kleinstaaterei gäbe es auch dieses Problem nicht, denn dann würde es keine Rolle spielen, aus welchem Bundesland die SuS kommen würden und wer sie wo wie prüft.

Alfredo Kunst
2 Jahre zuvor

Es ist einfach traurig, welche Wege Kinder und Ihre Eltern gehen müssen um dort hin zugelangen. Die Behörden stellen immerwieder Bäume in den Weg. Zuerst braucht man eine Diagnose, dann muss der behandelnde Psychiater oder Dr. das Kind Schulunfähig schreiben oder eine Aufhebung der Schulpflicht. Damit muss man dann zum Schulamt. Dann werden meist alle an einem Tisch gebeten. Das Schulamt fragt das Lerhpersonal alles ab. Natürlich schreibt kaum ein Lehrer, dass er mit dem Kind überfordert ist und gibt zum 95% keine Epfehlung. Bis dahin haben wir schon mal mindestens 9 Monate verloren in dem das Kind sehr leidet. Danach kommt das Jugenamt mit ans Board. Diese werden auch wenn sie schon einen Schulbegleiter genehmigt haben erstmal eine Schule für Kranke empfehlen und die Kosten für die Online-Schule nicht zahlen. Von 100 Anträgen jährlich in NRW werden 2 genehmigt. Es ist einfach fruchtbar.

Alla
2 Jahre zuvor

Deutsche Auslandschulen unterrichten auch nach NRW Richtlinien.
Eine mehrköpfige Prüfungskommission reist jährlich durch die Welt, um die Abschlüsse abzunehmen. (Nein, nicht Economy Class! Auch kein einfaches 4-Sterne Hotel!)
Darüber hat sich noch niemand beschwert, oder?

Grottenolm
3 Monate zuvor
Antwortet  Alla

Leider habe ich diesen Artikel etwas zu spät gelesen, aber vielleicht bekomme ich noch eine Antwort.

Warum wird das ganze rechtlich nicht wie ein Internat abgehandelt?

Was ist mit Schülern die täglich die Landesgrenzen überschreiten um zur nächsten Schule zu kommen?

Dann die oben angegebenen deutschen Schulen im Ausland

Und nicht zuletzt arbeiten doch auch genügend Lehrer und Angehörige der Bezirksregierung bezirks- oder landesübergreifend. Hier ist doch auch nicht der Wohnort ausschlaggebend sondern der Arbeitsort.

Der Arbeitsort der Internetschüler ist meiner Ansicht nach Bochum und sollte daher auch dort geprüft werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies bei den o.g. Schulbeispielen anders gehandhabt wird.