BERLIN. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat Vorwürfe zurückgewiesen, dass die deutsche Corona-Politik mit ihren international zum Teil eher etwas strengeren Maßnahmen für die Zunahme psychischer Störungen verantwortlich sei. „Da muss man vorsichtig sein, das geben die Studien aus meiner Sicht nicht her“, sagte der SPD-Politiker in der Sendung “hart aber fair”. Derzeit sorgt ein Bericht des Leiters der Kinderintensivstation Essen über einen rasanten Anstieg von Selbstmordversuchen unter Kindern für medialen Wirbel. Sind wirklich Schulschließungen dafür ursächlich?
Schulschließungen werden von Kinderärzte-Verbänden immer wieder als Ursache dafür genannt, dass Verhaltensauffälligkeiten von Kindern in der Pandemie zugenommen hätten – auch das mittlerweile von der FDP-Politikerin Bettina Stark-Watzinger geleitete Bundesbildungsministerium behauptet (auf Twitter): „Es zeigt sich (..), dass Schulschließungen negative Auswirkungen vor allem für das psychische Wohl der Kinder haben.“
Richtig ist: Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) war die Zahl der Jugendlichen mit Anzeichen einer Depression im ersten Corona-Lockdown 2020 deutlich angestiegen. Vor der Pandemie hatten demnach zehn Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren depressive Symptome, am Ende des ersten Lockdowns waren es 25 Prozent. Die beobachteten Symptome reichten von stillem Rückzug bis zu Verhaltensauffälligkeiten und Essstörungen. Aber was ist für deren Häufung verantwortlich: die Corona-Schutzmaßnahmen – oder die psychischen Belastungen durch die Pandemie selbst, hervorgerufen etwa durch die Angst vor Ansteckung oder die Sorge um Angehörige?
Bis zu 500 Kinder und Jugendliche sollen im 2. Lockdown bundesweit wegen eines Suizidversuchs stationär aufgenommen worden sein
Schulschließungen zur Ursache zu erklären (um weit offene Schulen ungeachtet des Infektionsgeschehens als Lösung präsentieren zu können), in diese Kerbe schlägt jedenfalls die aktuelle Berichterstattung über einen Bericht des Leiters der Kinderintensivstation in Essen, Prof. Dr. med. Christian Dohna-Schwake, der im Videocast „19 – die Chefvisite“ erzählt, bis zu 500 Kinder und Jugendliche sollen im zweiten Lockdown bundesweit wegen eines Suizidversuchs stationär aufgenommen worden sein – eine angebliche Steigerung von 400 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren. „Lockdown und Schulschließungen“ werden in Berichten insbesondere von Springer-Medien dafür verantwortlich gemacht – Schutzmaßnahmen also, nicht die Pandemie selbst.
Rund 30 deutsche Kinderintensivstationen meldeten demnach in einer Abfrage für den Zeitraum von Mitte März bis Ende Mai 2021 insgesamt 93 Suizidversuche unter Kindern und Jugendlichen. Das waren deutlich mehr als in denselben Zeiträumen der Vorjahre (2017: 25, 2018: 35, 2019: 37 und 2020: 22). Rechnet man die Zahl von 2021 auf alle Kinderintensivstationen in Deutschland hoch, kommt man laut der – bislang unveröffentlichten – Studie auf etwa 450 bis 500 Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen in ganz Deutschland.
Die Psychoanalytikerin und Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Renate Schepker, rät bei der Interpretation des Befunds gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland jedoch zur Vorsicht.
„Sind die als Suizidversuche benannten Aufnahmeanlässe auch kinder- und jugendpsychiatrisch abgeklärt worden?“
Erstens, „die Studie ist noch nicht veröffentlicht, sondern lediglich eingereicht. Ohne Peer-Review sind die Ergebnisse noch nicht belastbar“, sagt sie. „Bis dahin kann man nur zurückhaltend über die Inhalte sprechen.“ Zweitens müsse geklärt werden, wie die Suizidabsicht der eingelieferten Kinder und Jugendlichen verifiziert wurde. „Sind die als Suizidversuche benannten Aufnahmeanlässe auch kinder- und jugendpsychiatrisch abgeklärt worden?“, fragt Schepker. „Danach bemisst sich letztlich die Datengüte und die Kraft der Gesamtaussage.“
Selbst wenn der Befund sich wissenschaftlich bestätigen sollte: Über die Ursachen sagt er erst einmal wenig. Dass monokausal Schulschließungen für den möglichen Anstieg verantwortlich seien, behauptet Mediziner Dohna-Schwake auch gar nicht. Gegenüber der FAZ äußert er sich zu denkbaren Ursachen durchaus differenziert – und spricht von vielen Faktoren, die mutmaßlich zu diesem Anstieg beigetragen hätten: „Einmal die Reduktion der sozialen Kontakte, zu der ja nicht nur die Schulschließungen, sondern auch das vorübergehende Verbot von Vereinssport geführt haben.“ Vielen Jugendlichen habe außerdem eine Perspektive gefehlt. Der zweite Lockdown habe sich sehr lange hingezogen, ohne dass man wusste, wann er enden würde. „Dazu kamen die Angst um Familienangehörige und die Zunahme der Nutzung von sozialen Medien“, sagt der Mediziner.
Vereinssport, Angst um Familienangehörige und soziale Medien fallen eindeutig nicht in die Zuständigkeit der Schulen. So erklärt auch Lauterbach: In Staaten, die weniger Corona-Schutzmaßnahmen ergriffen hätten als Deutschland, würden ebenfalls mehr psychische Störungen beobachtet. Als Beispiel nannte er die USA, wo seiner Ansicht nach sehr viele Tote vermeidbar gewesen wären. Die zu beobachtenden Probleme seien mutmaßlich eher auf die Corona-Lage insgesamt als auf die Schutzmaßnahmen zurückzuführen. News4teachers
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