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GEW: Inklusion benötigt veränderte Strukturen im Bildungssystem – letztlich Gemeinschaftsschulen

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MÜNCHEN. In einer Umfrage des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) unter Lehrkräften zur Inklusion gaben 97 Prozent der Befragten an, unter den derzeitigen Rahmenbedingungen an Schulen sei Inklusion nicht möglich (News4teachers berichtete). Die GEW im Freistaat fordert nun „Mut, die Wahrheit auszusprechen“: Der bayerische Weg der Inklusion – den praktisch fast alle Bundesländer eingeschlagen haben – stecke in einer Sackgasse. „Es benötigt strukturelle Veränderungen, um das Menschenrecht auf Inklusion im Bildungsbereich umsetzen zu können“, meint die Gewerkschaft.

Inklusion ist ein großes Ziel – die Realität sieht vielerorts noch anders aus. Foto: Shutterstock

Lehrkräfte, die im inklusiven Setting arbeiten, fühlen sich allein gelassen. Es fehlten Ressourcen, Personal und Strukturen, die Inklusion ermöglichen – das brachte jedenfalls die BLLV-Umfrage zu Tage, die unter 700 Lehrkräften im inklusiven Setting an Bayerns Schulen durchgeführt wurde. „Das ist keine Überraschung“, sagt Florian Kohl, stellvertretender Vorsitzender der GEW Bayern und selbst Sonderpädagoge. „In Bayern versucht man verzweifelt, dem selektiven Schulsystem die Inklusionskappe aufzusetzen, die aber aufgrund der Strukturen gar nicht passen kann.“

“In keinem Bundesland ist der gesetzliche Rahmen, eine inklusive Schule zu schaffen, abschließend entwickelt worden“

Besonderheit im Freistaat: Es gibt dort (anders als in den meisten anderen Bundesländern) keine Gemeinschaftsschulen. Auch in anderen Bundesländern, wo es Gemeinschafts- oder Gesamtschulen gibt, ist die Inklusion in den Schulen nur unzureichend umgesetzt, wie das Deutsche Institut für Menschenrechte 2019  feststellte: „Über zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK im Jahr 2009 muss mit Blick auf das deutsche Schulsystem exemplarisch festgestellt werden, dass der Umsetzungsstand weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. In keinem Bundesland ist der notwendige gesetzliche Rahmen, eine inklusive Schule zu schaffen und zu gewährleisten, abschließend entwickelt worden.“ Seitdem hat sich – bedingt auch durch die Pandemie – in Sachen Inklusion praktisch nichts getan.

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Kohl zitiert Volker Arntz, den Schulleiter der Hardtschule im baden-württembergischen Durmersheim, einer inklusiven Gemeinschaftsschule, der am Dienstag auf der Auftaktveranstaltung der Vortragsreihe „Inklusion – und nun?“ der GEW Bayern und der Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe das Konzept seiner Schule vorstellte. „Inklusion erhöht den Komplexitätsgrad der pädagogischen Herausforderung extrem. Das kann keine Lehrkraft allein schaffen. Die Organisationsstrukturen innerhalb der Schule müssen sich dem anpassen. Lehrkräfte arbeiten sich sonst daran auf, verlieren das Gefühl der Selbstwirksamkeit und werden den Kindern nicht gerecht.“

Mit einem ausdifferenzierten Schulsystem, wie es sich in Bayern darstelle, sei der Anspruch eines inklusiven Schulsystems nicht umzusetzen, ist sich auch Karo Höbner, Mitorganisatorin der Veranstaltung der GEW Bayern, sicher. „Wenn wir Inklusion als Menschenrecht umsetzen, und das ist keine Frage des Wollens, sondern das müssen wir, müssen wir auch an die grundlegenden Strukturen unsere Bildungssystems ran. Wir können nicht einfach so weitermachen und hoffen, dass wir die Kinder mit zusätzlichen Ressourcen passend ins System gepresst bekommen.“

Den Vorschlag des BLLV, eine neue Berufsgruppe „Sonderpädagogische Inklusionsassistenz“ ins Spiel zu bringen, weisen Höbner und Kohl zurück. „Es macht keinen Sinn, die Inklusion auf Assistenzen abzuwälzen und das als Lösung anzubieten. Inklusion benötigt Professionalität und darf nicht zu Sparmaßnahme verkommen. Man sollte schon realistisch bleiben und sich eingestehen, dass das Menschenrecht auf Inklusion nicht in einem exkludierenden Schulsystem erfüllt werden kann. Und es gibt ja Schulmodelle, in denen Kinder kooperativ und individuell lernen, ohne dass für jedes Kind mit besonderen Bedürfnissen eine Assistenz abgestellt werden muss, beispielsweise die Gemeinschaftsschulen. Das wollen wir ins Bewusstsein rücken.“

“Wir stehen nicht nur aufgrund des Lehrkräftemangels vor einem Scherbenhaufen”

Die Strukturen, die Schulen in die Lage versetzen könnten, sich als Organisationen entsprechend zu entwickeln, müssten aber von oben kommen. Baden-Württemberg etwa machte vor Jahren den Weg frei für die Gemeinschaftsschulen. Volker Arntz‘ Hartdschule stand 2011 als Werksrealschule kurz vor der Schließung. 2020 erreichte sie beim Deutschen Schulpreis als inklusive Gemeinschaftsschule den zweiten Platz. Kinder lernen hier von der 1. bis zur 10. Klasse gemeinsam, individuell und kooperativ. „Wir müssen Bildung weiterdenken und dabei mutig sein. Denn wir stehen nicht nur aufgrund des Lehrkräftemangels vor einem Scherbenhaufen. Die Lehrkräfte brennen aus, kaum noch jemand will den Job machen – dabei sollte er einer der Schönsten der Welt sein“, meint Florian Kohl.

Eine weitere Veranstaltung zum Thema bietet die GEW Bayern am 05.07.2022 um 19 Uhr an. In der Vortragsreihe „Inklusion – und nun?“ wird die Lehrerin Susanne Posselt Einblicke in die Unterrichtspraxis an einer Gemeinschaftsschule bieten. Die Veranstaltung wird per Videokonferenz durchgeführt. Anmelden kann man sich per Mail an inklusion@gew-bayern.de

Umfrage: Fast alle Lehrkräfte halten die Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen für nicht realisierbar

 

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