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Fehlende Impulskontrolle: Wie Lehrkräfte Schülerverhalten besser verstehen und mit Regelverletzungen umgehen können

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BERLIN. Knallende Türen, vorschnelle Kommentare, Verweigerung bei der Durchführung von Aufgaben, Reinrufen im Unterricht – welche Lehrkraft kennt das nicht? Das Spektrum, wie sich fehlende Impulskontrolle äußert, ist groß: angefangen von Verhaltensweisen wie beispielsweise Eingeschnapptsein, übers Weinen, Beschimpfen, Zerstören von Gegenständen, Schlagen, bis hin zum am äußersten Ende des Spektrums selbstverletzendem Verhalten, zu Gewalttaten, Kleptoma­nie und exzessiven Alkohol-  oder Drogenkonsum. Unsere Gastautorin, die Berliner Sonderpädagogin Anna Mehlhorn, hat unlängst ein Buch zum Thema veröffentlicht.

Für Lehrkräfte ist der Umgang mit Schülern ohne Impulskontrolle oft sehr herausfordernd. (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Fehlende Impulskontrolle im Klassenzimmer: Was verbirgt sich dahinter – und wie geht man am besten damit um?

Impulskontrolle beschreibt die Fähigkeit, eine Handlung auf einen bestimmten Reiz zu stoppen, um über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Nicht allen Schüler*innen fällt dies leicht und sowohl im Schulalltag als auch im familiären Umfeld scheint das Kontrollieren der eigenen Impulse häufig eine große Challenge. Für Lehrkräfte ist der Umgang mit dem Verhalten oft sehr herausfordernd und ganze Unterrichtssequenzen können durch einzelne Schüler*innen auf den Kopf gestellt werden.

Dabei gibt es zahlreiche Situationen in der Schule, in denen Impulskontrolle notwendig wird. Sich melden und abwarten, ruhig mit dem Arbeiten beginnen, Verhaltensweisen seiner Mitschülerinnen und Lehr­kräfte respektieren, sich auf dem Pausenhof an die Spielregeln halten, im Klassenrat an­dere Meinungen akzeptieren und im Musikunterricht erst dann auf dem Schlagzeug spielen, wenn es erlaubt wird – das sind nur einige Ereignisse, die Schüler*innen mit Schwierig­keiten in der Impulskontrolle herausfordern.

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Autorin und Buch
Anna Katharina Mehlhorn ist Sonderpädagogin und Lehrerin mit den Schwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung, Autismus und Lernen in Berlin. Die Inklusion benachteiligter Kinder und Jugendlicher liegt ihr dabei besonders am Herzen. Schon im Studium an der Universität Leipzig begann sie Ideen zur Förderung der Impulskontrolle von Jugendlichen zu entwickeln und wissenschaftlich zu evaluieren. Ihr Buch “Impulskontrolle bei Jugendlichen: VollControl – Training für Psychotherapie, Beratung und Schule” ist im Beltz-Verlag erschienen. Hier lässt es sich bestellen (kostenpflichtig).

Um das Erscheinungsbild besser verstehen, einordnen und letztendlich auch besser mit den betroffenen Schüler*innen umgehen zu können, lohnt sich – neben einer Analyse der individuellen Voraussetzungen und der Umgebung – ein Blick in die Theorie zu Behandlungsmöglichkeiten und Vorstrukturierung von Lerngelegenheiten.

Hinter fehlender Impulskontrolle verbergen sich neurochemische, biologische/genetische und psycho-soziale Fak­toren. Aber auch andere Defizite und Schwierigkeiten, wie beispielsweise kognitive Überforderung, Schwierigkeiten andere Perspektiven einzunehmen und eigene Bedürfnisse zu äußern, können zur Frustration und damit auch zu impulsiven Verhaltensweisen führen. So vielfältig wie die Ursachen für dieses Verhalten sein können, so vielfältig sind auch die Folgen, die fehlende Impulskontrolle mit sich bringt. Nicht nur der schulische und soziale Erfolg im Jugendalter wird erschwert, sondern auch langfristige Folgen zeigen sich im Erwachsenenalter. Schlechtere ökonomische Ausgangspositionen, schlechterer Gesundheitszustand, mehr kriminelle Straftaten sind nur einige der in ausführlichen Studien (Moffit et al., 2011) zu fehlender Selbstkontrolle erforschten Konsequenzen.

Glauben Sie an Erfolge! Konzentrieren Sie sich auf die positiven Seiten und Ressour­cen der Jugendlichen und Kinder!

Die gute Nachricht ist, dass Impulskontrolle als Teil der Inhibition wie ein Muskel trainiert werden kann. Dazu gibt es Strategien, wie SchülerInnen lernen können, ihre Handlungen zu überdenken und Impulse zu kontrollieren – ausgehend von Selbstbeobachtung, Spiegelung und Reflexion des Verhaltens bis hin zur Gestaltung einer förderlichen Umgebung für die betroffenen Schüler*innen.

Neben einer strukturierten Lernumgebung, Transparenz im pädagogischen Handeln, Empathieförderung, der Schaffung von Freiräumen und dem Ermöglichen von Bewegungssituationen eignen sich kreative therapeutische Formen, um zu lernen, eigenen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Wie bei allem gilt: Prävention kommt vor Intervention. So ist es wichtig, eine Umgebung für die Schüler*innen zu schaffen, in der impulsives Verhalten gar nicht erst zum Tragen kommt. Kinder und Jugendliche wollen genau wie jeder andere ernst genommen werden, mit all ihren Belangen und Bedürfnissen. Das Ausrichten auf die Ressourcen und Ermöglichen von Erfolgssituationen kann dabei wahre Wunder bewirken. Der Fokus sollte also auf den ressourcenorientierten Fragen liegen:

Was kann der Schüler? Wo liegen seine oder ihre Interessen? Wo kann man ansetzen ohne zu über- oder unterfordern?

Jemand der sich in seiner Umgebung sicher und kompetent fühlt, wird weniger Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Das Aufstellen eigener Ziele, Selbstreflexion und letztendlich das Erleben eigener Selbstwirksamkeit stellen entscheidende Faktoren in der Förderung von Impulskontrolle dar und sollten zu einem festen Bestandteil im Schulalltag werden, davon werden nicht nur Schüler*innen mit Schwierigkeiten in der Impulskontrolle profitieren. Eine digitale Hilfe bietet die kostenlose Webseite www.control-it-reflexion.de. Hier können schnell, effektiv und schülernah Ziele überprüft und ausgewertet werden. Wichtig ist dabei, dass die Ziele erreichbar bleiben und Erfolgserlebnisse möglich werden.

Weiterhin können die Schüler*innen Strategien erlernen, wie sie ihre Impulse besser kontrollieren können. Eine Möglichkeit ist das Erlernen der Selbstverbalisationstechnik, hierbei geht es vorrangig um die Ablenkung im ersten Schritt und – im zweiten – um das Überdenken der Handlungswahl. Der Schüler führt dabei eine Art Selbstgespräch in Gedanken. Beispielsweise kann der Schüler, nachdem er einen Auslöser erkannt hat, auf eine Karte mit entsprechender Handlungsanweisung oder beispielsweise einem witzigen Bild schauen, um sich einerseits abzulenken und andererseits an eine Strategie, wie beispielsweise tief durchatmen oder von 10 bis 0 runterzählen, zu erinnern.

Die Kapazitäten des Gehirns von Schüler*innen mit Schwierigkeiten in der Impulskontrolle sind in einigen Situationen deutlich überlastet. Leistungsdruck, Zeitdruck, Stress, eine immense Reizüberflutung und Anpassung an sozial geforderte Normen sind nur einige der zu nennenden Faktoren, die Betroffene beeinflussen. Phasen der Entlastung und Entspannung sind demnach nicht zu vernachlässigen. Häufig berichten Jugendliche mit Schwierigkeiten in der Impulskontrolle, dass sie in konfliktgeladenen Situationen einfach ihre Ruhe benötigen, um sich wieder »einzukriegen«. Bei manchen sind fünf Minuten allein vor die Tür gehen ausreichend, andere wollen mindestens eine halbe Stunde allein in einem Zimmer verbringen und auf keinen Fall in dieser Zeit angespro­chen werden. Im Schulalltag können Entspannungszeiten etabliert werden, manche Kinder oder Jugendliche lassen sich auch gern auf altersangemessene Entspannungsgeschichten ein.

Arbeiten Sie multiprofessionell zusammen! Gemeinsam kann man mehr bewirken!

Ein weiterer Ansatz ist es, das »Win-Win«-Denken im Alltag zu integrieren. Der Ansatz wird von Stephen Covey (2020) geprägt. Das Konzept von Win-Win-Si­tuationen beinhaltet ein Ergebnis, eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten zufrieden sind und aus der alle einen Nutzen ziehen können. Dazu ist es wichtig, dass das Gegenüber als Verhandlungspartnerin respektiert wird, deren Interessen und Vorstellungen berücksichtigt werden. Am Ende sollte ein Ergebnis stehen, aus de­nen beide Parteien einen Nutzen ziehen können. Anders als bei Lose-Win-, Lose-Lose-oder Win-Lose-Situationen können dadurch langfristige und nachhaltige Erfolge auf beiden Seiten entstehen.

Damit die erlernten Strategien Frucht tragen können, ist es wichtig, dass der Jugendliche nach der Durchführung der Förderung weiter betreut wird, dass die Reflexion weiter ausgebaut wird und dass der Schüler in seiner Um­gebung mit neu erlernten Verhaltensmustern bestärkt wird, dass er in seiner Persönlichkeit angenommen wird und Selbstwirksamkeit erfährt. Selbstwirksamkeit mit anschließender Selbstverstärkung wird gefördert durch das Thematisieren und Erfahren vom Ausmaß eigenen Handelns: Meine Aktionen haben Wirkungen, es gibt Konsequenzen und ich kann selbst wählen, für welchen Weg ich mich entscheide. Es gibt Förderprogramme, die sowohl in der Schule als auch in Therapien umgesetzt werden können.

Vielleicht zeigt sich ein Erfolg nicht un­mittelbar, aber das Beschäftigen mit der eigenen Impulsivität und Impulskontrolle wird langfristig Folgen haben und Selbstreflexion ist wichtig für die persönliche Weiterent­wicklung.

Zum Abschluss noch ein paar Tipps für das pädagogische Handeln im Überblick:

Auffälliges Verhalten von Schülern: „Es gibt Kinder, die halten schlichtweg andere Kinder nicht aus“ – ein Experten-Interview

 

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