BERLIN. Der heutige 30. September ist der Tag der Legasthenie und der Dyskalkulie – Anlass für den VBE-Bundesvorsitzenden Udo Beckmann, von der Politik zu fordern, sie solle Schulen personell so ausstatten, dass Lehrkräfte ihre Schüler individuell fördern können. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) und die Deutsche Kinderhilfe richten den Fokus auf das rechtliche Durcheinander, das bei dem Thema herrscht. Verlangt werden bundesweit einheitliche Nachteilsausgleiche für betroffene Kinder und Jugendliche über die gesamte Schulzeit.
„Mehr als zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen haben Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. Schule ist für sie oftmals mit schmerzlichen Niederlagen, zum Beispiel durch schlechte Noten oder Demütigungen, verbunden. Viele der betroffenen Schüler:innen leiden infolgedessen unter psychischen Belastungen“, sagt VBE-Chef Beckmann.
Er betont: „Das hohe Maß an individueller Förderung, das notwendig wäre, um ihnen zu helfen, ist angesichts des dramatischen Lehrkräftemangels, der Folgen der anhaltenden Coronapandemie oder den Herausforderungen bei der Integration geflüchteter ukrainischer Kinder und Jugendlicher, kaum leistbar. Auch im frühkindlichen Bereich mangelt es an Personal, sodass betroffenen Kindern bereits vor dem Eintritt in die Schule die notwendige Mehrförderung verwehrt bleibt. Die daraus resultierenden Lernrückstände prägen die gesamte Bildungsbiografie und sie können ihr Recht auf Bildung, unabhängig von der Herkunft oder etwaigen Erkrankung oder Lernschwierigkeiten, nicht wahrnehmen.“
„Die Gewinnung neuer und zusätzlicher Lehrkräfte und Erzieher:innen muss höchste Priorität haben”
Auch dies mache deutlich, dass die Politik alles Erdenkliche unternehmen müsse, um diese gravierende Bildungsungerechtigkeit abzubauen und endlich die Rahmenbedingungen zu schaffen, die unabdingbar seien, damit Lehrkräfte individuelle Bildungsangebote für jede Schülerin und jeden Schüler bereitstellen können. Beckmann: „Die Gewinnung neuer und zusätzlicher Lehrkräfte und Erzieher:innen muss höchste Priorität haben. Darüber hinaus müssen Lehrkräfte aber auch Erzieher:innen über entsprechende Fort- und Weiterbildungen besser für eine möglichst frühe Diagnostik geschult werden, damit eine möglichst zeitige Förderung gewährleistet werden kann. Außerdem braucht es Unterstützung durch den Einsatz multiprofessioneller Teams. Sie können dabei helfen, auf die jeweilige Problemlage zugeschnittene Angebote zu konzipieren, die nötige Unterstützung bei psychischen Belastungen anbieten und somit einen wertvollen Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit für betroffene Schüler:innen leisten.“
„Wir sind fassungslos, mit welcher Willkür man Kindern mit Legasthenie und Dyskalkulie in unserem Schulsystem Steine in den Weg legt“, beklagt Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. „Jedes Kind, das in unserem Schulsystem benachteiligt ist, braucht unsere Unterstützung und einen Nachteilsausgleich, um es erfolgreich auf Ausbildung oder Studium vorzubereiten“, fordert Becker. In jedem Bundesland gibt es unterschiedliche schulrechtliche Regelungen bei einer Legasthenie und Dyskalkulie. Mehr Zeit bei Klausuren, technische Hilfsmittel oder persönliche Assistenzen können helfen, Wissen barrierefrei aufzunehmen und in Prüfungen darzulegen.
„Für Eltern ist das absolut unverständlich und für ihre Kinder ungerecht, dass jedes Bundesland seinen eigenen Weg geht. In einigen Bundesländern verschlechtern sich die Rahmenbedingungen aktuell sogar. Die Bildungschancen sind in Deutschland davon abhängig, wo die Eltern wohnen. Das entbehrt doch jedem gesunden Menschenverstand“, sagt Tanja Scherle, Bundesvorsitzende des BVL.
„Einem Brillenträger würde man auch nicht verbieten, seine Brille in der weiterführenden Schule zu tragen”
Insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit einer Dyskalkulie sei es schwierig, gut durch das Bildungssystem zu kommen, da es in vielen Bundesländern noch gar keinen Nachteilsausgleich gebe (oder er ende mit der Grundschulzeit). „Das ist unglaublich. Einem Brillenträger würde man auch nicht verbieten, seine Brille in der weiterführenden Schule zu tragen. Eine Brille ist ebenfalls als Nachteilsausgleich zu verstehen, für den niemand kämpfen muss, da es selbstverständlich ist, eine Sehschwäche auszugleichen“, sagt Scherle.
Ein Nachteilsausgleich stelle keine Bevorzugung oder Vereinfachung dar, jeder Schüler müsse die gleiche Leistung erbringen. Es lägen ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse zur Legasthenie und Dyskalkulie vor, die zeigten, wie man Menschen mit diesen Beeinträchtigungen am besten individuell unterstützt und wie demzufolge ein Nachteilsausgleich gestaltet werden sollte.
Eltern müssten immer wieder aufs Neue dafür kämpfen, dass ihrem Kind ein Nachteilsausgleich gewährt wird. Häufig erführen sie Ablehnung in der Schule, da man unterstelle, es dem Kind einfacher machen zu wollen. „Kinder bewusst zu diskriminieren, keinen Nachteilsausgleich zu gewähren und einfach wegzuschauen, wenn sie im Bildungssystem scheitern, das muss der Vergangenheit angehören. Die Bildungspolitik muss sich ihrer Verantwortung stellen und das bundesweit einheitlich, sonst schaffen wir es nicht, gut qualifizierte Fachkräfte auszubilden, die uns bereits heute fehlen“, fordert Rainer Becker.
In der Ausbildung und im Studium gewähre man Menschen mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie einen Nachteilsausgleich, in der Schule in den meisten Fällen nicht, so Scherle. Unser Bildungssystem müsse hier dringend nachbessern, um für einheitliche Bildungsperspektiven zu sorgen. „Stärken stärken und Barrieren abbauen, das ist der einzig richtige Weg für mehr Chancengleichheit“, betont die Verbandsvorsitzende. News4teachers
