BERLIN. Insgesamt 55 Sozialverbände, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen – darunter die GEW – haben die Bundesregierung in einem gemeinsamen Appell dazu aufgefordert, Kinderarmut entschieden zu bekämpfen und die dafür notwendigen Mittel im Bundeshaushalt zur Verfügung zu stellen. Kritisiert wird darin auch das Programm „Aufholen nach Corona“ von Bund und Ländern, das Schülerinnen und Schülern nach der Pandemie helfen soll, Lernrückstände aufzuarbeiten.
Die unterzeichnenden Organisationen des Ratschlag Kinderarmut fordern in ihrer gemeinsamen Erklärung „Solidarität mit armutsbetroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien – besonders in der Inflationskrise!“, Armutslagen von jungen Menschen nicht länger hinzunehmen, sondern endlich das nötige Geld in die Hand zu nehmen, um ihnen ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. „Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, haben nicht die gleichen Bildungschancen, sind öfters gesundheitlich eingeschränkt und müssen materielle Entbehrungen erleiden. Ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in unserem Land sind davon betroffen: mit 20,8 Prozent liegt die Armutsquote bei Kindern auf dem höchsten Stand seit Jahren“, so heißt es in dem Papier.
„In den vergangenen Jahren hat sich die Situation deutlich verschärft: Durch die Corona-bedingte Schließung von Einrichtungen und Unterstützungsstrukturen wie Kitas, Schulen, Jugendclubs und Familienzentren waren Familien lange Zeit und in wiederkehrendem Maße auf sich allein gestellt und zum Teil hohen Belastungen ausgesetzt. Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten langsam aber stetig gestiegen und nun durch die Inflation aktuell explodiert. Auf Familien, die Sozialleistungen beziehen, oder die trotz Erwerbstätigkeit unter der Armutsgrenze liegen, ist der Druck dramatisch gestiegen.“
„Es müssen dringend zielgerichtetere Maßnahmen ergriffen werden, damit Kinder und Jugendliche nicht weiter zu Bildungsverlierer*innen werden“
In der Erklärung fordern die unterzeichnenden Organisationen die Politik daher dazu auf, die Interessen und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen endlich in den Mittelpunkt zu rücken und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Gerade angesichts der steigenden Preise, die für viele Privathaushalte und soziale Einrichtungen schwer zu stemmen sind, dürfe jetzt nicht am falschen Ende gespart werden.
„Um die gewachsenen Belastungen der Familien abzufedern, wurden ein Kinder-Sofortzuschlag und ein einmaliger Kinderbonus gewährt. Um Kinder und Jugendliche insbesondere aus Familien mit geringen Einkommen zu unterstützen und Versäumtes nachzuholen, wurde das Aktionsprogramm ‚Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche‘ aufgelegt. Diese Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um die aktuellen Preissteigerungen für armutsbetroffene Familien aufzufangen, geschweige denn, um einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland zu leisten.“ Die aktuell teilweise an die Inflation angepassten Regelsätze der Sozialleistungen bedeuteten zwar etwas Entlastung für die betroffenen Familien, ein Aufwachsen ohne Armut ermöglichten sie den Kindern und Jugendlichen aber nicht.
„Aufholen nach Corona“, ein Milliardenprogramm von Bund und Ländern, wird als Projekt von „zweifelhafter Wirksamkeit“ kritisiert. Die Autorinnen und Autoren der Stellungnahme fordern: Es müssten „dringend zielgerichtetere Maßnahmen ergriffen werden, damit Kinder und Jugendliche nicht weiter zu Bildungsverlierer*innen werden.“
Weiter heißt es: „Hatten viele armutsbetroffene oder armutsbedrohte Familien bereits vor oder während der Corona-Pandemie zu kämpfen, um über die Runden zu kommen, so wissen mittlerweile viele dieser Familien angesichts unvermindert stark ansteigender Preise für Energie und Lebensmittel überhaupt nicht mehr, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Familien, die trotz Arbeit an der Armutsschwelle leben, darunter viele Alleinerziehende, stoßen angesichts der explodierenden Wohnnebenkosten an ihre Grenzen. Hier schafft auch das dritte Entlastungspaket mit einer Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag kaum Abhilfe, denn es unterstützt nicht zielgenau diejenigen, die diese Hilfen am dringendsten brauchen. Gleichzeitig ist eine Umsetzung der Kindergrundsicherung noch nicht in Sicht. Es braucht dringend bedarfsgerechte Lösungen – jetzt.“
Für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung dürften monetäre Leistungen und Investitionen in die Infrastruktur nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Für ein Aufwachsen in Wohlergehen benötigen Kinder und Jugendliche beides: eine auskömmliche finanzielle Absicherung und eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur, durch die alle Kinder und Jugendlichen dazu befähigt werden, ihre Potenziale und Talente zu entwickeln.“ Die aber wackele in der Krise.
So drohe, dass Kommunen bei ihren sozialen und kulturellen Aufgaben sowie bei Investitionen in die Infrastruktur kürzen würden. Betroffen seien Jugendfreizeiteinrichtungen, Familienzentren, Hilfen für Familien sowie Familienbildungs- und Familienerholungsstätten. „Gerade für armutsbetroffene Kinder, Jugendliche und Familien, darunter sehr viele alleinerziehende und kinderreiche Familien, sind soziale Einrichtungen insbesondere in Krisenzeiten wichtige Anlaufstellen. Sie sind Begegnungs-, Bildungs-, Gesundheits-, Beratungs- und Erfahrungsorte, die an nachbarschaftliche Lebenszusammenhänge anknüpfen und für viele den Stellenwert eines zweiten Wohnzimmers haben. Dort, wo Familien zunehmend unter Druck geraten,
können diese Einrichtungen und ihre vielfältigen Angebote gezielt entlasten und durch frühzeitige Unterstützung einen wichtigen Beitrag zum präventiven Kinderschutz leisten.“
„Bis zur Einführung der Kindergrundsicherung braucht es schnelle und lückenlose Hilfe. Der Sofortzuschlag und die geplante Kindergelderhöhung sind keine passenden Mittel“
Neben einer „verlässlichen und auskömmlichen Finanzierung der Einrichtungen, Dienste und Angebote und ihrer Träger im Bereich der Kinder- und Jugend- und Familienhilfe“ fordern die Verbände und Initiativen „eine monetäre Absicherung im Rahmen einer echten Kindergrundsicherung aus einer Hand, auf der Basis eines neu und realistisch ermittelten soziokulturellen Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen.“
Da es bis zu einer Einführung allerdings dauere, seien Sofortmaßnahmen unumgänglich. „Bis zur Einführung der Kindergrundsicherung braucht es schnelle und lückenlose Hilfe. Der Sofortzuschlag und die geplante Kindergelderhöhung sind keine passenden Mittel. Sie sind zu gering, und das Kindergeld wird auf Leistungen nach dem SGB II und Unterhaltsvorschuss oder den Kindesunterhalt angerechnet. Alle Kinder, die in Deutschland aufwachsen, müssen vollumfänglich von den Maßnahmen profitieren können.“ News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Appell.
Folgende Organisationen haben die Erklärung unterzeichnet:
- Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes NRW
- Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Baden-Württemberg e.V.
- Arbeiter Samariter Bund Deutschland e.V.
- Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V.
- Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Niederrhein e.V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung e.V. (BAG FE e.V.)
- Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer und Väter e.V.
- Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V.
- Bundesjugendwerk der AWO e.V.
- Bundesverband der Familienzentren e.V.
- Bundesverband der Mütterzentren e.V.
- Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
- Caritasverband für das Bistum Essen e.V.
- Deutscher Bundesjugendring e.V.
- Deutsches Kinderhilfswerk e.V.
Der Kinderschutzbund e.V. - Der Kinderschutzbund Landesverband Rheinland-Pfalz e.V.
- DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V.
- Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
- Diakonie Hessen – Diakonisches Werk in Hessen und Nassau und Kurhessen-Waldeck e.V.
- Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche der Pfalz
- evangelische arbeitsgemeinschaft familie e.V. (eaf)
- Evangelischer Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET)
- Familienbund der Katholiken (FDK) Bundesverband e.V.
- FLECHTWERK 2+1 gGmbH
- Förderverein gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit e.V. (KOS)
- Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
- Humanistischer Verband Deutschlands – Bundesverband e.V.
- Internationaler Bund (IB) Freier Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit e.V.
- Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS)
- KINDERVEREINIGUNG e.V.
- Landesarbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung Baden-Württemberg e.V.
- Landesverband Mütter- und Familienzentren in Bayern e.V.
- Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
- LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland-Pfalz e.V.
- Nationale Armutskonferenz (nak)
- National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
- NaturFreunde Thüringen e.V.
- Präventionsketten in Niedersachsen – Gesund aufwachsen für alle Kinder
- Prager-Eltern-Kind-Programm PEKiP e.V.
- Progressiver Eltern- und Erzieher*innen-Verband NRW (PEV) e.V.
- Saarländische Armutskonferenz e.V.
- Save the Children Deutschland e.V.
- Selbsthilfeinitiative Alleinerziehender (SHIA) e.V. Bundesverband
- Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V.
- SOS-Kinderdorf e.V.
- Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD)
- Sozialverband VdK Deutschland e.V.
- Stiftung SPI, Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“
- Systemische Gesellschaft – Deutscher Verband für systemische Forschung,
Therapie, Supervision und Beratung e.V. - Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), Bundesverband e.V.
- ver.di-Erwerbslose Mittelbaden-Nordschwarzwald
- Volkssolidarität Bundesverband e.V.
- VPK – Bundesverband privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe e.V.
- Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.
- Zukunftsforum Familie e.V.
Forscher Butterwegge: Kinderarmut verschärft sich zur Zwei-Klassen-Gesellschaft
