Website-Icon News4teachers

Neue Bildungspläne: Hamburg schreibt Lehrkräften 50 % der Unterrichtsinhalte vor, 50 % sind frei wählbar – Modell für Deutschland?

HAMBURG. Hamburgs Schülerinnen und Schüler starten mit neuen Bildungsplänen ins Schuljahr 2023/24. Nach heftiger Kritik verschiedener Verbände stellte Schulsenator Ties Rabe (SPD) nun überarbeitete Bildungspläne seiner Behörde vor. «Wir haben die guten Anregungen, aber auch die Sorgen der Schulwelt sehr ernst genommen und die Pläne erheblich überarbeitet», sagte Rabe. Ein zentraler Punkt: Die umstrittene Kompetenzorientierung wird zwar formal auf alle Fächer ausgeweitet, dafür aber erstmals von konkreten inhaltlichen Vorgaben flankiert. Ein Vorbild auch für andere Bundesländer?

Legt neue Bildungspläne vor: Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland. Foto: Michael Zapf / BSB

Rabe sprach von einem sehr guten Kompromiss. «Wir haben bisher alles mit der Schulwelt zusammen gemacht, und so soll es auch in Zukunft weitergehen.» Anders als erste Entwürfe sehen die neuen Bildungspläne keine zusätzlichen Klausuren vor. Dieser Punkt hat laut Rabe für die größte Aufregung gesorgt. «Ich glaube, dass der Vorschlag, den wir jetzt machen, allen Beteiligten entgegenkommt.» Wie bisher können zahlreiche Klausuren – bis auf solche in Rechtschreibung und Mathematik – durch alternative Leistungen wie Referate oder Präsentationen ersetzt werden. Hier sollen in einem Dialog mit allen Beteiligten gemeinsam mit Wissenschaftlern gute Beispiele gesammelt und Qualitätsvorgaben entwickelt werden. Weiterhin gelte auch die alte Regel bei der Benotung – «Das Schriftliche darf nicht überwiegen».

Die ersten Planentwürfe waren unter anderem von der Elternkammer, der Lehrerkammer, den Grundschulleitungen und den Leitungen der Stadtteilschulen kritisiert worden. Sie bemängelten, dass es mit ihnen keinen offenen Dialog gegeben habe und wehrten sich gegen ein «unzeitgemäßes Pauken». Rabe hatte die ursprünglichen Entwürfe mit dem Satz präsentiert: «Leistung mag anstrengend sein, aber sie macht glücklich!»

Anzeige

«Kompetenzen werden nicht im ‚luftleeren‘ Raum erlernt, sondern immer an konkreten Bildungsinhalten»

Ein weiterer Kritikpunkt war die geplante neue Stofffülle. Vor diesem Hintergrund habe man die Bildungsinhalte gegenüber den Entwürfen noch einmal in allen Fächern deutlich reduziert – bis auf Mathematik, sagte Rabe nun. Die umstrittene Kompetenzorientierung bleibt erhalten, wird formal sogar jetzt auf alle Fächer ausgeweitet. Allerdings wird sie erstmals ergänzt durch Kerncurricula mit inhaltsbezogenen Anforderungen, die verbindlich zu erarbeitende Themen, Inhalte und Lerngegenstände ausweisen.

So heißt es im allgemeinen Teil der neuen Bildungspläne: «Kompetenzen werden nicht im ‚luftleeren‘ Raum erlernt, sondern immer an konkreten Bildungsinhalten. Die Kompetenz, Gedichte zu verstehen und zu interpretieren, wird erlernt durch die Befassung mit Gedichten. Die Kompetenz, Lösungsstrategien für den Klimawandel zu entwickeln, wird erlernt durch die Befassung mit Phänomenen des Klimawandels. Fach- und Sachinhalte sind insofern Voraussetzung und Grundlage für das Lernen von Kompetenzen. Eine gute Kompetenzorientierung setzt zudem ein solides Fach- und Sachwissen voraus. Ohne ein solides Fach- und Sachwissen können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel viele Texte nur sehr mühsam oder gar nicht verstehen, weil ihnen Fachbegriffe fehlen oder das nötige Wissen fehlt, um die Textinformationen zu entschlüsseln. Ohne ein solides Fach- und
Sachwissen können Schülerinnen und Schüler beispielsweise weder eine Zeitung lesen noch Nachrichten in den Medien verstehen und haben kaum eine Chance, kritisches Denken zu entwickeln oder an der Gesellschaft teilzuhaben. Kompetenzen und Inhalte sind in vielen Fällen nicht zu trennen und bedingen einander.»

Was bedeutet das für die Curricula? Als Beispiel nannte Rabe die Vorgaben im Fach Deutsch in der Grundschule. Hier habe in den alten Bildungsplänen lediglich gestanden «Der Schüler soll Texte schreiben», jetzt benennen die Pläne fünf verschiedene Textsorten konkret. Laut Schulbehörde beanspruchen die neuen Inhalte alles in allem jetzt rund 50 Prozent der Unterrichtszeit, die anderen 50 Prozent könne die Schule selbst gestalten. Hier allerdings ist Rabe zurückgerudert. Er hatte ursprünglich deutlich mehr inhaltliche Vorgaben vorgesehen. Im Fall Deutsch: Die Schulbehörde wollte im ersten Entwurf neun verschiedene Textsorten – statt fünf – vorschreiben.

«Wir wissen auch, dass die Schulen jetzt ein bisschen Arbeit vor sich haben, um sich auf diese Bildungspläne einzustellen»

Beibehalten wurden die von der Schulwelt begrüßten neuen Leitperspektiven «Bildung für nachhaltige Entwicklung», «Werte für ein gelingendes Zusammenleben in einer solidarischen, vielfältigen Gesellschaft» und «Leben und Lernen in einer digital geprägten Welt». Das Thema Inklusion sei in die Präambel der Bildungspläne aufgenommen worden. «Die Pädagoginnen und Pädagogen gehen mit den Stärken, Talenten und Kompetenzen ebenso wie mit den Herausforderungen und Unterstützungsbedarfen ihrer Schülerinnen und
Schüler so um, dass diese ihre individuelle Entwicklung aktiv gestalten können und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt werden», so heißt es darin vage.

Die neuen Bildungspläne sind online einzusehen. Sie sollen nach den Sommerferien schrittweise mit einer dreijährigen Erprobungsphase eingeführt werden. «Wir wissen auch, dass die Schulen jetzt ein bisschen Arbeit vor sich haben, um sich auf diese Bildungspläne einzustellen», sagte Rabe. Die Erprobungsphase werde wissenschaftlich begleitet, um die Unterstützungsmaßnahmen zu überprüfen und zu verbessern, aber auch um eventuelle Unschärfen oder Probleme der neuen Bildungspläne zu heilen. Nach dieser Phase sollen die Bildungspläne am 1. August 2026 vollends in Kraft treten.

Die überarbeiteten Bildungspläne lösten ein geteiltes Echo aus. Während die Grünen die neuen Pläne als «tragfähigen Kompromiss» bezeichneten, forderte Sabine Boeddinghaus von den Linken mehr Zeit für die Schulen zur Prüfung der vorgelegten Pläne. «Denn wenn die Entwürfe der Bildungspläne weiterhin weder zukunftsgerichtet noch pädagogisch sinnvoll noch qualitativ auf der Höhe der Zeit sind, bleiben sie ein Fall für die Mottenkiste», heißt es in einem Antrag, den die Linksfraktion in die nächste Bürgerschaft einbringen will.

«Seine eigenen Pläne für Leistungssteigerung hat der Senator geschliffen, unter dem Druck links-grüner Kräfte, die nur gute Noten statt guter Bildung anstreben»

Nach Ansicht der CDU-Bildungspolitikerin Birgit Stöver seien mit der Reduzierung der Stofffülle und dem Verzicht auf zusätzliche Klausuren zwei gewichtige Punkte der Änderungs- und Verbesserungsvorschläge insbesondere der Fachlehrerschaft aufgenommen worden. «Es ist gut und richtig, dass auch weiterhin Klausuren – bis auf solche in Rechtschreibung und Mathematik – durch alternative Leistungen wie Referate oder Präsentationen ersetzt werden können», sagte Stöver.

Die FDP-Abgeordnete Anna v. Treuenfels-Frowein warf Rabe hingegen vor, den Schulstrukturfrieden zu unterlaufen. «Was Schulsenator Rabe heute vorgelegt hat, bleibt weit hinter den Absichten des überparteilichen Schulstrukturfriedens zurück. Seine eigenen Pläne für Leistungssteigerung hat der Senator geschliffen, unter dem Druck links-grüner Kräfte, die nur gute Noten statt guter Bildung anstreben.» Dass Referate und Präsentationen weiter Klausuren ersetzen können, sei ein Fehler, ebenso die Reduzierung verbindlicher Lerninhalte auf 50 Prozent. News4teachers / mit Material der dpa

Bündnis von Lehrerverbänden und der mittelständischen Wirtschaft fordert mehr Leistungsdenken in Schulen

Die mobile Version verlassen